Filmkritik

Norwegischer Horror: Kinder im Bann der Gewalt

Mit großer Neugier – und Faszination daran, andere zu quälen – ziehen Ida (Rakel Lenora Fløttum) und Ben (Sam Ashraf) durch ihre Nachbarschaft.
Mit großer Neugier – und Faszination daran, andere zu quälen – ziehen Ida (Rakel Lenora Fløttum) und Ben (Sam Ashraf) durch ihre Nachbarschaft. (c) Polyfilm
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In „The Innocents“ zeigt der norwegische Regisseur Eskil Vogt, wie Kinder grauenhafte Fähigkeiten entwickeln.

Kinder und Erwachsene leben in getrennten Welten, über deren Abgründe sich kaum kommunizieren lässt. Als die neunjährige Ida mit ihren Eltern und ihrer autistischen älteren Schwester Anna in eine Hochhaussiedlung an einem norwegischen Waldrand zieht, sind gerade Sommerferien. Für das Mädchen, das aus Langeweile immer wieder die sprachlose und nur wenig Reaktionen zeigende Schwester quält, indem sie heimlich ihren Arm zwickt oder gefundene Glasscherben in ihre Schuhen platziert, ziehen sich die Tage in der fremden Umgebung lang und einsam hin.

Das ändert sich, als sie den etwas älteren dunkelhäutigen Buben Ben trifft. Er ist ein Außenseiter, seine Narben deuten auf ein Trauma hin, und er verfügt über erstaunliche Fähigkeiten: Allein durch Willenskraft kann er Objekte bewegen. Wie Ida hat er einen ausgeprägten Drang, seine Umwelt zu erkunden und zu sezieren; auch er kennt bei der Erprobung kausaler Zusammenhänge wenig Empathie für seine Versuchsobjekte. Ja, er ist ihnen – etwa einer zugelaufenen Katze – gegenüber sogar noch mitleidloser als Ida.

Das verursacht dieser ein erstes Erschrecken, und von da an nimmt sie Anna, mit der sie bis dahin lieber nicht öffentlich gesehen werden wollte, als Verstärkung und Schutzschild mit auf den Spielplatz. Dort treffen sie nicht nur Ben, sondern auch das durch Verbrennungsnarben im Gesicht gezeichnete Mädchen Aisha. Dieses verfügt ebenfalls über eine ungewöhnliche Gabe: Aisha kann die Gedanken anderer Menschen hören und ist in der Lage, eine geistige Verbindung mit Ben und Anna herzustellen. In der Folge experimentieren sie zu viert, probieren ihre Fähigkeiten aus. Insbesondere Anna blüht durch die neu gefundene Gemeinschaft auf: Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Erkrankung beginnt sie wieder zu sprechen.

Hinter den Fassaden des Vertrauten

Eskil Vogt, der heuer für das Drehbuch zu Joachim Triers Drama „Der schlimmste Mensch der Welt“ für einen Oscar nominiert worden ist, nähert sich in seiner zweiten eigenen Regiearbeit mit sensiblem Blick und eindrücklichen visuellen Umsetzungen kindlichen Wahrnehmungswelten und den ihnen innewohnenden Schrecken. In ruhigen Einstellungen folgt er den Wegen und Handlungen seines höchst beeindruckend spielenden jungen Ensembles. Fast unmerklich gleitet der Film dabei immer wieder aus naturalistischen Betrachtungen des Lebens zwischen Spielplätzen, Wald und Hochhäusern jäh hinüber in das albtraumhaft Expressive der hinter den Fassaden des Vertrauten lauernden Gefahren und Gewalten.
Denn schon bald schlägt, was als Spiel begonnen hat, in ein gefährliches Kräftemessen um. Das Wissen um die eigenen Fähigkeiten fordert deren ungezügelte Nutzung heraus. Vor allem Ben setzt sie mehr und mehr ein, um sich für Kränkungen zu rächen, wobei schon kleinste Verletzungen gravierende Konsequenzen nach sich ziehen. Obwohl er selbst für Momente über die Monstrosität seiner Taten erschrickt, gibt es für ihn von einem gewissen Punkt an kein Zurück mehr. Ida, Anna und Aisha erkennen die Gefahr, die nun auch für sie von dem zunehmend in sich selbst eingekapselten Ben ausgeht, scheitern aber daran, seinem Treiben ohne Hilfe ihrer für ihre Ängste unerreichbaren Eltern Einhalt zu gebieten.

Das skandinavische Kino hat schon einige grandiose Verknüpfungen von Coming-of-Age-Stoffen mit dem Horror-Genre hervorgebracht, etwa die eindrückliche Modernisierung des Vampirmotivs in „So finster die Nacht“ (2008) von Tomas Alfredson. Ähnlich zurückgenommen beobachtet nun „The Innocents“ die Wechselwirkungen von kindlicher Einsamkeit, Ohnmacht, Wut und Grausamkeit, ohne sie erklären zu wollen. Besondere Dringlichkeit bezieht der Film aus dem ausgefeilten Einsatz von Musik und Geräuschen und aus geschickt gesetzten Schockmomenten, die gerade durch die Beiläufigkeit ihrer Inszenierung schmerzhaft anzusehen sind. Das sorgt für unterschwellig-ängstliches Erwarten weiterer Schläge über die gesamte Lauflänge und trägt dazu bei, die Spannung bis zum Ende zu steigern. Einiges bleibt trotz der Plausibilität der Darstellung rätselhaft, wahrscheinlich hilft genau das, den Film, seine Charaktere und ihre Geheimnisse noch lang nachhallen zu lassen.

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