Kolleritsch: "Vorwurf der Pornografie war hilfreich"

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Kolleritsch prägt seit 50 Jahren die Avantgarde in Graz. Zum Jubiläum seiner "manuskripte" redet er über tolle Kollegen, heimliches Dichten, den rechten Abwehrkampf und seine Träume nah an der Todeserfahrung.

Die Presse: Vor 50 Jahren haben Sie die renommierte Literaturzeitschrift „manuskripte“ gegründet. Wie kam es dazu?

Alfred Kolleritsch: Das Forum Stadtpark ist im November 1960 eröffnet worden. Literaten wie Barbara Frischmuth und ich haben zuvor noch die Wände gestrichen und beklagt, dass die Maler zwar eine Ausstellung hätten, die Musiker auftreten, die Architekten sprechen, aber dass die Literatur nichts mache. Es gab ein Studio der Jungen und getrennt davon die Alten. Die Literatur war gespalten. Wir Jungen haben am Abend Gedichte von uns zusammengetragen, auf Matrizen geschrieben, vervielfältigt und am nächsten Tag veröffentlicht. 100 Exemplare gab es vom ersten Heft der „manuskripte“.

Das war also der Beginn der Avantgarde in Graz?

Ich hatte ein Initialerlebnis: Im Kunsthaus gab es eine Lesung von Gerhard Rühm. Sie hat mich so begeistert, dass ich die Texte in den „manuskripten“ bringen wollte. An diesem Wochenende kam noch Arnulf Rainer dazu. So entstand die Nummer zwei, mit Texten auch von Bayer, Artmann, Achleitner.

Wie bewahrt man so lange den Ruf, der Avantgarde anzugehören? Man wird doch älter!

Es war für uns leicht, Avantgarde zu sein, weil Graz so weit rechts orientiert war. Wir führten einen Abwehrkampf gegen das Wahre, Gute und Schöne, wie es bei den Nationalsozialisten definiert worden war. Wir haben vollmundig das Wort Revolution verwendet und von Veränderung gesprochen, aber wir haben uns überhaupt nicht politisch engagiert. Das Lautgedicht war unser Manifest, die ästhetisch freie Form. Die Lust war groß, die Literatur nach Graz hereinzuholen. Dann haben sich der Ernst Jandl und die Fritzi Mayröcker bei uns gemeldet. Sie sind Freunde und Förderer geworden.

Einen Skandal löste Oswald Wiener aus...

Wir haben „Die Verbesserung von Mitteleuropa“ veröffentlicht. Dass wir dann der Verbreitung von Pornografie bezichtigt wurden, war blöde, aber hilfreich. Es gab eine Zusammenrottung, Prediger und rechte Kulturredakteure wollten eine Säuberung. Ich wurde verhört, aber es kam nie zur Anklage. Die uns schädigen wollten, haben uns eigentlich sehr geholfen. Wir sind bekannt geworden.

Die Gruppe ist rasch gewachsen...

Klaus Hoffer, Wilhelm Hengstler und Gerhard Roth sind dazugestoßen. Wolfi Bauer war von Anfang an dabei. Und Konrad Bayer hat in Wien die Hefte vertrieben, ist von Buchhandlung zu Buchhandlung gegangen. Es gab aber auch Konkurrenzdenken in Wien, sobald sich Graz einen Namen gemacht hatte. Man warf uns Reaktion vor, da waren auch Gert Jonke und Peter Handke gemeint, die bei uns zu schreiben begonnen hatten. In dieselbe Zeit fiel die Literaturrevolution von 1968. Es gab einen heftigen Gedankenaustausch zwischen Scharang, Jelinek, Handke, Hoffer und mir. Elfriede Jelinek hat den Streit kalmiert. Sie ist bis heute die Treueste, gibt mir immer wieder Texte für diese mitlaufende Literaturgeschichte.

Mit den eigenen Texten waren Sie zurückhaltend.

Ich hatte meinen Roman „Die Pfirsichtöter“ bereits 1965 fertig. Auf das Eigene bezogen hatte ich eine Art Minderwertigkeitsgefühl. Die Jüngeren waren für mich die wichtigen Autoren, für mich gab es Häme aus Wien. Handke hat mich nach seinem ersten Buch beim Residenz Verlag dort empfohlen. Mein Roman ist 1971 erschienen. Handke hilft anderen Autoren wirklich viel. Er hat alle seine Preise an andere weitergereicht, hat so viele Autoren gefördert und zu Verlagen gebracht.

Sie sind als Lyriker hervorgetreten. Ist das eine Kunst, die erotische Vorteile bringt?

Das ist viel zu spät für mich gekommen, weil ich erst mit 40 meine Gedichtbände veröffentlicht habe. Davor habe ich nur heimlich Gedichte geschrieben. Ich habe schon manche Damen angedichtet und ihnen Hefte zugeschickt. Aber ich war damals viel zu schüchtern, um das zu nutzen.

Sie haben auch Philosophie unterrichtet. Welche Denker haben Sie in Ihrem Leben begleitet?

Ich habe mir schon als Mittelschüler eine private Quelle an Büchern erschlossen, durch meinen Großvater. Er war in der Südsteiermark Oberlehrer, in der Monarchie, aus Slowenien kommend. Er war philosophisch gebildet und hatte eine große Bibliothek. Ich habe alles durcheinander gelesen. Diese Liebe zu Gedanken und ihren Varianten ist mir geblieben. Leo Gabriel hat mir empfohlen, Heideggers Buch „Platons Lehre von der Wahrheit“ zu lesen. Dort hat bei mir die Philosophie begonnen, die ich vielleicht nie ganz begriffen habe. Aber sie war ungeheuer anregend und ist in meine Texte eingeflossen, zumindest als Anspielung.

Meinen Sie mit „dort“ das Schloss in der Südsteiermark, wo Sie aufgewachsen sind?

Ja. Mein Vater war dort Forstverwalter, in einer konservativen Enklave. Die Besitzerin war eine Schwester der Kaiserin Zita. Die Tradition hat sich dort erhalten. Schon mein Urgroßvater war im Garten tätig, meine Großmutter war Köchin. Da gab es Unterwürfigkeit. Meine Familie war das Personal, das von der Herrschaft geduzt wurde. Bis heute habe ich eine Scheu vor dem Adel.

Sie haben im Vorjahr eine schwere Krankheit überwunden und waren lange im künstlichen Tiefschlaf. Für einen Hypochonder, der Sie erklärtermaßen sind, muss das der Horror sein.

Ich war immer ein berühmter Hypochonder, habe mich für meine Ängste mit 20 sogar behandeln lassen, bin von einem Psychiater zum anderen gelaufen. Aber merkwürdigerweise habe ich, als es ernst wurde, gar keine Todesangst verspürt. Ich habe nichts von den Operationen mitbekommen.

Erinnern Sie sich an die Träume dieser Zeit? Das wäre doch auch ein Stoff für die Literatur.

Es fällt mir schwer, Träume und Wirklichkeit aus meinem Spitalsaufenthalt und zwei Monaten Tiefschlaf auseinanderzuhalten. Ich habe die Träume als Realität empfunden, ich war in einem Gymnasium in Mureck, auf dem Schloss. Ich hätte fast ein bisschen Angst, darüber zu schreiben. Zweimal war ich in Russland, es können also nur Träume gewesen sein. Einem Freund habe ich dafür gedankt, dass er mich so oft besucht hat. Er sagte, er war nie bei mir. Mit einem Kollegen bin ich Motorrad gefahren. Das war gar nicht möglich. Wir wurden verfolgt von jemandem, der uns ausgelacht hat. Er fuhr auf dem Motorrad vorbei und zog dem Kollegen die wallend langen Haare vom Kopf und hat sie mir aufgesetzt. Ich habe die ganze Zeit gefühlt, dass ich fremde Haare auf dem Kopf habe. Sie sind mir ausgefallen, und auch die Fingernägel sind mir weggefault – träumte ich. Das Negative ist mir aber im Spital niemals zu Bewusstsein gekommen. Ich wurde Gott sei Dank von Freunden behandelt. Wenn das nur Ärzte gewesen wären, hätte ich mich wahrscheinlich nicht mehr erholt.

In Wien lädt die Alte Schmiede am 25.11. zu „50 Jahre MANUSKRIPTE“. (19 Uhr). Unter anderem liest Alfred Kolleritsch (*1931) eigene Gedichte. Am 3.12. wird die Ausstellung „Peter Handke und die manuskripte“ im Literaturhaus Graz eröffnet (19 Uhr). Im Anschluss wird das Jubiläumsheft präsentiert. Am 4.12. gibt es ein Fest im Grazer Schauspielhaus (19.30 Uhr) mit rund 140 Autoren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2010)

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