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Bald im Kino: Ein Liebesreigen der verlorenen Seelen

Wo in Paris die Sonne aufgeht
Wo in Paris die Sonne aufgeht
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Erst kommt die Selbstfindung, dann die Liebe: In der sozialrealistischen französischen Romantikkomödie „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ stolpern drei impulsive Menschen durch die Großstadt. Dabei verhandelt der Film auch die Bedingungen der Lust.

Der Titel „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ klingt fast klischeemäßig nach französischem Sehnsuchts- und Liebesreigen-Kino. Das ist nicht ganz falsch, unterschlägt aber, dass es Jacques Audiard in seinem neuen Film gelingt, einen entschieden frischen Blick auf sein Sujet zu eröffnen. Neben überzeugenden Darstellern und pointierten Dialogen tragen vor allem die nüchternen Schwarz-Weiß-Bilder dazu bei – und die Hochhausarchitektur des 13. Pariser Bezirks Les Olympiades, nach dem der Film im Original so schlicht wie treffend benannt ist.

Hier wohnt Émilie (Lucie Zhang) in der riesigen Wohnung ihrer Großmutter. Diese leidet an Alzheimer und fristet ihr Dasein in einem Heim, während die Enkelin nach dem Studium nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Derzeit jobbt sie in einem Callcenter und sucht eine Mitbewohnerin. Statt dieser findet sie Camille (Makita Samba), einen gut aussehenden und hochintelligenten, aber tief frustrierten Lehrer.

Direkt nach dem Vorsprechen für die Wohnung wird er Émilies Liebhaber. Eine Woche lang haben sie begeistert Sex, dann stellt sich heraus, dass sie unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was daraus folgen soll. Während Émilie sich verliebt, besteht Camille darauf, allein am körperlichen Genießen interessiert zu sein. Oberflächliche Abenteuer sollen ihn über die Leere seiner beruflichen Perspektive hinwegtrösten, mehr nicht. Er ist nicht bereit, sich der jungen Frau zu öffnen oder gar eine ernsthafte Beziehung einzugehen. So schnell, wie er in ihr Leben eingebrochen ist, verschwindet er wieder.

In einem zweiten Erzählstrang zieht Nora (Noémie Merlant) von Bordeaux ins 13. Pariser Arrondissement, um mit Anfang dreißig ihr Jurastudium fortzusetzen. Sie ist auf der Flucht aus einer unguten Beziehung und zunächst begeistert vom Blick auf die Seine, von der asiatischen Prägung des Viertels und seiner Uni-Nähe. Doch schnell wendet sich das Blatt. Dass sie mit blonder Perücke der Web-Sexarbeiterin Amber Sweet (Jehnny Beth) zum Verwechseln ähnlich sieht, beschert ihr gleich beim ersten Ausgehen peinliche Momente. Für die wenig selbstsichere Frau verwandeln sich Studium und neues Umfeld in ein einziges, nicht zu ertragendes Spießrutenlaufen.

Von US-Graphic-Novels inspiriert

Als sie sich ein weiteres Mal neu aufstellt und in einem Immobilienbüro zu arbeiten beginnt, kreuzen sich die Handlungsstränge. Camille hat das Büro übernommen, um der Misere des Lehrerdaseins zu entfliehen. Bald schon verliebt er sich in Nora, die jedoch seltsam unentschlossen bleibt, während Émilie versucht, ihre lieblose Existenz mit Dating-App-Abenteuern zu füllen, von denen sie Camille regelmäßig berichtet. In einer sozialrealistischen Romantikkomödie voller Enttäuschungen und mal schroffer, mal erotischer oder zärtlicher Impulsivität stolpern die Charaktere durch eine ganz und gar unromantische Großstadtlandschaft, in der immerhin Herkunft und Hautfarben keine wesentliche Rolle zu spielen scheinen.

Zusammen mit den Drehbuchautorinnen Léa Mysius und Céline Sciamma („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) hat Audiard für seinen Film amerikanische Kurzgeschichten im Graphic-Novel-Format als Grundlage genommen und sie Pariser Verhältnissen angepasst. Dabei sind so interessante wie ambivalente Charaktere auf verzweifelt-zweifelnder Suche nach einem Leben ohne Einsamkeit entstanden. In einem Moment charmant und voller Einfühlungsvermögen, schlagen sie im nächsten überheblich und egozentrisch auf ihre Nächsten ein, ohne deren Schmerz auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Neuer Blick auf Sex und Begehren

In Audiards „Der Geschmack von Rost und Knochen“ von 2012 stand die bedingungslose, aus Lust geborene Liebe in ihrer wuchtigen Absolutheit noch ganz in der Tradition machistischer Amour-Fou-Erzählungen. In „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ hat sich der Blick auf Sex und Begehren nun deutlich verändert: Statt um Pathos geht es nun gleichermaßen um die Bedingungen der Lust und die Spannung, ob es gelingen wird, sie zu genießen, wie um ihre Aus- und Nachwirkungen.

Viel nackte Haut wird auch hier gezeigt. Aber es wird ebenfalls darüber nachgedacht, wie sich die an ihr entstehende Reibung auf die Haltungen ihrer stets zwischen Desillusionierung und Hoffnung hin- und hergeworfenen Träger auswirkt. Und welcher Selbstfindungsprozesse es bedarf, um das eigene Verlangen zu erkennen und sich mit ihm anzufreunden. Aus all dem ergeben sich Erkenntnisse in Form blitzartiger Einschläge und nachhallender Emotionen – für die Protagonisten wie für das Publikum.

Ab Freitag im Kino.

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