Erzählung

Mein Freund kommt heute nicht

Ich mochte den einen oder anderen Ballwechsel für mich entscheiden, auch das eine oder andere Game. Aber zu einem ganzen Satz reichte es nie, geschweige denn zu einem Match.
Ich mochte den einen oder anderen Ballwechsel für mich entscheiden, auch das eine oder andere Game. Aber zu einem ganzen Satz reichte es nie, geschweige denn zu einem Match.(c) Laurence Mouton / PhotoAlto / picturedesk
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Er war der jüngere Sohn des Volksschulwarts, und mein Vater missbilligte unsere Freundschaft. Dabei war der Kurti, zwei Jahre jünger als ich, strebsam, ehrgeizig, höflich, ein wenig schüchtern, aber schnell von Begriff.

Selbst ein Halbpatriziersohn und keineswegs dazu bestimmt, mein Leben mit Menschenkindern des zweifelhaften Viertels zu teilen, in das mein Elternhaus vor deren Zeit hineingebaut worden war, stammte mein bester Freund aus „einfachsten Verhältnissen“. Er war das Kind „kleiner Leute“, der jüngere Sohn des Volksschulwarts, und mein Vater missbilligte unsere Freundschaft. Dabei war der Kurti, zwei Jahre jünger als ich, strebsam, ehrgeizig, höflich, ein wenig schüchtern, aber schnell von Begriff und brachte von der ersten Klasse Volksschule weg stets dieselben Alles-Einser-Zeugnisse mit nach Hause wie ich. Papa verbot mir zwar nicht „den Umgang“ mit Kurti, aber bei uns zu Hause wollte er ihn nicht sehen, was ich mir – und dem Kurti – überhaupt nicht erklären konnte, und was mir auch Papa nicht erklärt hat, jedenfalls nicht expressis verbis. Ich glaube, mein strenger Vater und seine stechenden Augen müssen furchterregend auf den kleinen Schulwartsohn gewirkt haben. Wenn Kurti mich zu Hause aufsuchte, dann nur streng geheim wie eine Geliebte und nur, um mich zum Spielen abzuholen.

Umgekehrt fürchtete auch ich mich vor Kurtis Vater, dem Schulwart, nicht weniger, den ich stets nur im zerschlissenen grauen Arbeitsmantel sah, und der in meiner Erinnerung niemals sprach, sondern immer schrie, als könnte er gar nicht anders. Aus der Schulwartwohnung drang stets cholerisches Geschrei. Der Eingang zu dieser ebenerdigen Wohnung der Schulwartfamilie, eine kümmerliche kleine Dienstwohnung, befand sich im Innenhof der Volksschule, einer ehemaligen Festung, die noch so hieß und die angeblich zum Schutz vor den durchmarschierenden Truppen Napoleons erbaut worden war, den hier in der Provinz freilich gar nichts interessierte, außer vielleicht ein, zwei Liebesnächte mit jungen einheimischen Schönheiten.

Frühmorgens hatte der Schulwart vor allem im Winter harte körperliche Arbeit zu leisten: Denn sämtliche acht Klassenzimmer, das Konferenzzimmer, das Direktorszimmer und der Turnsaal waren nur mit Kachelöfen ausgestattet, die mit Holz und Kohle zu beheizen waren.

Wir waren in unserer Kinderwelt

In der Schulwartwohnung roch es nach kaltem Zigarettenrauch und Alkohol (ich konnte den Geruch als Kind nicht bestimmen, aber es ekelte mich davor), und auch nur den Flur zu betreten, um den Kurti zum Spielen zu holen, bereitete mir stets ein mulmiges Gefühl: Am sichersten war es nachmittags, wenn der polternde Schulwart nicht zu Hause, sondern im Gasthaus Grimschitz war. Aber man wusste nie, wann und in welchem Zustand er zurückkehrte und einem den Fluchtweg abschnitt. Aber auch seine Frau, ein knochiges kleines Weiblein, fauchte: „Der Kurti kommt heute nicht. Der Kurti muss lernen! Der Kurti darf nicht spielen!“ Ein paar Minuten später hatte der Kurti aber alles gelernt, und er kam doch.

An die Schule grenzten ein verwilderter Park und ein verwaister asphaltierter Parkplatz, wo die Buben der Siedlung gegen Buben benachbarter Viertel nachmittags Fußball oder Hockey spielten, und als die Buben heimgegangen waren, spielten der Kurti und ich allein weiter. Das Gute war, dass unsere Eltern, so unterschiedlich sie auch sein mochten, wenig Zeit für uns hatten. Ich war der Tormann, er der Stürmer, er „schoss mich ein“, bis es dunkel wurde, und gleichzeitig kommentierten wir unsere imaginierten Schlachten und Länderspiele nach Art der Fernsehkommentatoren und gaben uns die großen Namen der Zeit: Ich war der Antrich, der Stachowitz, der Fuchsbichler, der Rettensteiner oder der Koncilia, der Kurti Parits, Hasil, Buzek, Emmerich. Wir waren in unserer Kinderwelt, um uns herum hörte für Stunden alles zu existieren auf, und es war das Paradies.

Das Gebäude der Volksschule Festung entsprach architektonisch am ehesten einem Vierkanthof, und der Schotterboden des Innenhofs wurde unser Haupt- und Lieblingsspielplatz, unser Center Court. Uns reichte als Netz ein Strick, den wir von einer Längsseite des Hofs zum anderen spannten. Die Outlinien kratzten wir mit den Schuhsohlen in den Schotter. Eine Zeitlang warfen wir den Tennisball mit bloßen Händen hin und her, dann zertrümmerten wir ein paar alte Federballschläger, ehe wir – kaum dass wir ein bisschen Taschengeld bekamen – auf einem Flohmarkt unsere ersten Holzrackets erstanden. So spielten wir Wimbledon: stundenlang, tagelang, jahrelang. All die großen Partien von Björn Borg und Jimmy Connors, John McEnroe, Rosco Tanner, Vilas und Gerulaitis fanden im Innenhof der Festung statt; jede Geste, jedes Stöhnen, jedes Detail und jede Handbewegung imitierten wir, bis wir sie auswendig konnten. Etliche Fensterscheiben – auch die der Schulwartwohnung – gingen in Brüche, oft kam der Schulwart fluchend und schimpfend und drohend herausgestürmt, und immer gewann der Kurti. Ich mochte den einen oder anderen Ballwechsel für mich entscheiden, auch das eine oder andere Game. Aber zu einem ganzen Satz reichte es nie, geschweige denn zu einem Match. Gegen den Kurti hatte ich keine Chance, aber das machte eigentlich nichts.

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