Wiener Originale

Maly Nagl - Sternderln, Schrammeln und Strawanzer

Beim Heurigen ist manchen ein »Räuscherl liaba als wia a Krankheit oder a Fieber«. Wenn Sängerin Maly Nagl, ein Symbol des Wienertums, voller Lebendigkeit intoniert, ist Glückseligkeit garantiert.

Ich kann mich noch gut erinnern.
Jeden Sonntagnachmittag verstaut meine Mutter in der Aludose mit den Frischhaltelückerln Proviant: Paradeiser, hart gekochte Eier, mit Brimsen abgemachten Liptauer, eine kleine Stange Wiesbauer-Wurst, Emmentaler – in Würferln geschnitten, Wachauerlaberln. Und dann geht's zum Heurigen. Wo man pipperlt und papperlt. An den sonnendurchfluteten Nussberghang. In ein die Seele weitendes Paradies – wie mein Vater nach dem zweiten Vierterl pathetisch meint.

Wo dann abends Sternderln, Schrammeln und Strawanzer eine ideale Kulisse für Glückseligkeit bilden. ln einem Biotop, in dem die Engerln auf Urlaub nach Wean kommen und über so manche Enttäuschung des Lebens – zumindest für kurze Zeit – hinwegtrösten.

An den von Windlichtern spärlich erhellten Holztischen unter den mächtigen Kastanien-Kronen rücken dann alle zusammen: frisch Verliebte und abgeklärte Ehepaare, junge Genießer und alte Schmähführer, gut situierte Herren im besten Alter mit charmanter Begleitung im Petticoat, ewige Spitzbuben mit dem Tschik im Mundwinkel und Damen mit prächtiger Perlenkette und einer gewissen Sehnsucht im Blick. Gemeinsam singt man dann „Beim Heurigen, da gibt's kan Genierer, da sitzt der Bankdirektor neman Tapezierer“. Oder „Uns is' a Räuscherl liaba als wia a Krankheit oder a Fieber . . .“

Debüt beim Heurigen. Eine der urigsten Vertreterinnen, ein Symbol dieses Wienertums, ist Maly Nagl. Die Volkssängerin Amalie Maly Nagl wächst als eine von drei Töchtern eines Kaffeehauskochs auf. Ihr Großvater ist der populäre Volkssänger Ignaz Nagl, auch Mutter Marie singt Volksweisen wie „Am schönsten spieln d' Schrammeln wann's anblasen san“.

Bereits als Neunjährige singt Maly gemeinsam mit ihrer Schwester Mizzi bei einem Heurigen im Duett: Später auch im Neuwaldegger Wirtshaus Zur goldenen Waldschnepfe und im Strauss-Lanner-Saal des Grand Etablissement Gschwandner, einer Wiener Vergnügungsinstitution in der Hernalser Vorstadt.

Im Alter von 15 Jahren singt sie auf einer Jugendstil-Kleinkunstbühne in der Kärntner Straße. Im von Josef Hoffmann entworfenen und unter anderem von Gustav Klimt und Oskar Kokoschka gestalteten Cabaret Fledermaus im Souterrain wird die Sängerin von den Bohemiens Wiens stürmisch gefeiert. Der Dichter Peter Altenberg, der sich selbst als Afrikaforscher der Alltäglichkeit bezeichnet, berichtet 1908 von einem „Naturtalent, das keine Note kennt und dennoch ganz herrlich singt“. Von Maly Nagl: „Ein Kunstwerkchen . . . sie ist eigentlich das Allerbeste, was es an Wiener Sängerin gibt. So jung sie ist, ist sie ein vornehmes Überbleibsel von vergangenen Zeiten . . . Stimme ist genügend vorhanden . . . ihr Vortrag hat etwas Herzliches . . . ihre Bewegungen sind kokett, doch es ist keine berechnende Koketterie.“

Maly Nagls Persönlichkeit, die dunkle, fast raue Stimme, ihre sichere Intonation und der große Tonumfang machen sie zu einer unvergleichlichen Interpretin des Wienerliedes. Während der kargen Zwischenkriegszeit, als man bei Musik im Wirtshaus oder beim Heurigen versucht, die Sorgen ein wenig zu vergessen, spricht die Wienerlieder-Sängerin vielen Menschen aus der Seele. Wenn sie intoniert: „I hob kan Zins no zahlt, i' bin nervös / und auch der Gaskassier is auf mi' bös.“
Bald tritt Maly Nagl in Solokonzerten auf, im Raimundtheater, im Konzerthaus und regelmäßig bei Radio Wien und später im besetzten Nachkriegsösterreich beim Sender Rot-Weiß-Rot. Durch den Rundfunk wird sie auch weit über die Grenzen Wiens hinaus bekannt. Und durch Schallplatten. Noch ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod erscheint 2002 die LP „Des is klassisch“: In erlesener Runde trällert Maly Nagl neben Elfriede Ott, Josef Meinrad, Fritz Muliar, Heinz Conrads, Julius Patzak und dem Schmid Hansl Wiener Volksweisen.

Der Kapellmeister und Komponist Fritz Wolfsecker, der sich Fritz Wolferl nennt, gestaltet im Radio eine wöchentliche Sendung, „60 Minuten Barmusik“. Fritz und Maly lernen einander bei einem Abend für das Wienerlied kennen. Die ersten gemeinsamen Lieder. Das erste Busserl. 1924 heiraten sie und pflegen mehr als 50 Jahre lang Musik aus Wien.
Maly Nagl gilt auch als Inbegriff der Wiener Dudlerin. Als die sie eine beinahe ausgestorbene Volkskunst, Jodeln auf Wienerisch, pflegt. Voller Lebendigkeit und Leichtigkeit. Wie später Trude Mally mit ausladendem Busen und mächtigem Haar-Turm, die überzeugt ist: „Das Dudeln muss in einem drin sein, lernen kann man das nicht . . .“ Oder die singende resche Wirtin Anny Demuth in ihrem Liebhartstaler Lokal Zum alten Drahrer. Sie alle beherrschen die fast vergessene Kunst des Dudelns.
Die Sängerinnen Tini Kainrath, Agnes Palmisano und Doris Windhager bemühen sich noch heute darum, das Dudeln in der Tradition der großen Maly Nagl am Leben zu erhalten. Und auch die Schweizerin Christina Zurbrügg, die in einem Film die letzten Dudlerinnen Wiens hochleben lässt.

Als Maly Nagl, die unvergleichliche Interpretin des Wiener Liedes – wie auf ihrem Grabstein eingeätzt ist –, 1977 stirbt, summt so mancher Trauergast eines ihrer Lieblingslieder: „I brauch' ka schöne Leich', i kumm a ohne Kranz genauso guat ins Himmelreich . . . “

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