Leitartikel

Nehammer muss eine toxische Suppe auslöffeln

APA/ROLAND SCHLAGER
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ÖVP und Grüne werden alles tun, um Neuwahlen zu vermeiden. Eine Möglichkeit wäre etwa, endlich mit echtem Krisenmanagement zu starten.

Einer alten Tradition dieser Zeitung folgend, verzichten wir auf die Kommentierung eines Politikers, wenn wir ihn am selben Tag interviewen. Am Freitag fand ein einstündiges, mitunter emotional und von beiden Seiten kontrovers geführtes Interview mit Bundeskanzler Karl Nehammer statt, das Sie in der „Presse am Sonntag“ lesen können.

Noch selten zuvor wurde ein Kanzler so „bemitleidet“, das Land in einer so schwierigen Zeit führen zu müssen. Noch selten zuvor waren schwere Krisen und echte Risken so zahlreich und präsent wie gerade. Die Pandemie ist entgegen der allgemeinen Frühlingsstimmung noch nicht vorbei. In Osteuropa tobt ein Krieg, in dem die russischen Aggressoren mutmaßliche Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung begangen haben und den Westen herausfordern. Eine galoppierende Inflation frisst unsere Ersparnisse und macht das normale Leben unglaublich teuer.


Diese Auswirkungen spüren alle Bürgerinnen und Bürger stärker als die vergangenen Finanz- und Eurokrisen. Hinzu kommt eine echte Bedrohung für Österreich: Liefert Russland kein Erdgas mehr, ist das Heizen noch das geringste Problem. Der Wirtschaft droht eine Rezession, die Lebensmittelversorgung wäre zum Teil gefährdet. Die existenziellen Ängste nehmen zu. Mit diesen Themen muss sich eine türkis-schwarz-grüne Koalition beschäftigen und Auswege finden, die es möglicherweise kaum gibt.

Für die ÖVP führt der dritte Kanzler und mit diesem Wochenende zweite Parteichef eine auf Sicht fahrende Regierung, die eigentlich – vom Klimawandel abgesehen – in einer Schönwetterphase Österreichs gewählt wurde. Echte, mutmaßliche und behauptete Korruptionsfälle lähmen eine Partei, die eigentlich mit den besten Köpfen bestes Krisenmanagement betreiben sollte. Der Verdacht, dass beides nur bedingt vorhanden ist, drängt sich auf. Karl Nehammer hat keine andere Wahl, als alles dafür zu tun, bis zum letzten Tag der Legislaturperiode durchzuhalten.

Das wiederum wissen die Grünen, die ebenfalls wenig Interesse an einem Absprung haben: Mehr Einfluss werden sie in einer Regierungskonstellation nie wieder bekommen und ausüben können.

Doch natürlich sind auch sie Getriebene dieser Zeit: Leonore Gewessler muss ihre Energiewende nun wirklich in Rekordzeit umsetzen, nicht nur wegen des Klimawandels, sondern wegen des drohenden Gasausfalls. Das kann beschleunigend wirken. Die explodierenden Energiepreise werden – großteils ungerechterweise – auch der Ministerin angelastet.

Das Gerücht, Werner Kogler könnte schon bald an seine wichtigste Ministerin übergeben, ist zwar ein solches, wird aber vor der kommenden Nationalratswahl vermutlich wahr werden. Dafür spricht eben nicht nur das Geschlecht, sondern auch ihre aktuellen Ressortkompetenzen und ein durchaus ausgeprägter Kampfgeist bei den Umweltthemen.

Nehammer muss ein toxisches Süppchen auslöffeln, das ihm andere eingebrockt haben: parteiintern das Team Kurz und verhaltensauffällige Landesgruppen wie die Vorarlberger ÖVP, als Kanzler das Jahrzehnt eines energiepolitischen Zugs der Lemminge nach Moskau. Auch in der milliardengewinnschweren OMV gibt es mit Alfred Stern einen Nehammer, der ausbaden muss, was Rainer Seele und Co. zu verantworten haben: die völlige Abhängigkeit von Russland.

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