Die Denkmalgruppe in Kiew soll eine Völkerfreundschaft bezeugen, die es nicht mehr gibt. Sie wurde teilweise demontiert.
Kulturkampf

Die gnadenlose (Ent-)Russifizierung

In der Ukraine stürzen sie russische Denkmäler, taufen Plätze neu und benennen Straßen um. Selbst Tolstoi gerät ins Visier. Aber Russland geht noch viel brutaler vor.

Wien/Kiew. Ein junger Mann formt seine Hand zum V für Victory. Er sitzt auf dem Kopf eines namenlosen russischen Arbeiters aus Bronze in Kiew. Und er posiert für die Kamera. Die Enthauptung der Statue war ein Unfall. Er ist passiert, als man die bronzene Figur nach 40 Jahren vom Sockel entfernt und von ihrem ukrainischen Pendant getrennt hatte. Das kommunistische Arbeiterpaar war Teil einer Denkmalgruppe über dem Ufer des mächtigen Dnjepr-Flusses in Kiew.

Sie sollte eine Völkerfreundschaft zwischen Russland und der Ukraine bezeugen, die es nicht mehr gibt. Der Krieg in der Ukraine hat das Geschenk vom „Brudervolk“ aus Sowjettagen hoffnungslos entwertet. „Du tötest deine Brüder nicht. Und du vergewaltigst nicht deine Schwestern“, sagt Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew.

Charkiw will Erbe abschütteln

Die Demontage der acht Meter großen Statue war erst der Anfang. Dutzende Denkmäler in Kiew wackeln. 467 Orte in Kiew sollen umgetauft werden. Auch Belarus gerät ins Visier, Russlands Komplize. Eine nach der Hauptstadt Minsk benannte Straße? Will man nicht mehr. Über die Ukraine schwappt in diesen Tagen eine neue Welle der „Entrussifizierung“.

Beispiel Charkiw. Die Metropole im Osten ist die zweitgrößte Stadt, und sie galt als die „russischste“. Sie waren dort Russland immer nah – kulturell, familiär, wirtschaftlich, geografisch sowieso. Ein geschicktes Russland hätte in Charkiw rasch seinen Einfluss geweitet. Aber Putins Artillerie hat die Bande zerschossen. Sobald dieser Krieg zu Ende ist, sagte neulich Charkiws Bürgermeister, Igor Terechow, werde er den Vorschlag unterbreiten, alle Plätze der Stadt mit Russland-Bezug umzubenennen. Denn dieser Krieg hinterlasse ohnehin auch so „zu viele Narben, die uns daran erinnern, was wir für einen Nachbarn haben“.
Charkiw will sein sowjetisch-russische Erbe so gut es geht abschütteln. Das genaue Gegenteil dessen, was Putin bezweckt hat.

In jedem Krieg werden Geschichten von Helden und Antihelden erzählt und verewigt. In der Region Chernihiv will man nun Straßen nach der 1. ukrainischen Panzerbrigade benennen, die dort, nordöstlich von Kiew, geholfen hat, den Angriff der Russen abzuwehren.

Andernorts wird Boris Johnson gewürdigt. In Fontanka bei Odessa soll eine Straße nach dem britischen Premier benannt werden, weil sein Land zu den fleißigsten Militärhelfern zählt. Bisher war der russische Dichter Majakowski Namensgeber der Straße. In Ternopil, Westukraine, wollen sich die Leute nicht mehr an Juri Gagarin erinnern, den ersten Mann im Weltall. In Kiew soll ein nach Leo Tolstoi benannter Platz nicht mehr so heißen.

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