In Lyman im nördlichen Donbass rückt die Front jeden Tag näher. Die russischen Granaten und Raketen schlagen bereits ein.
Reportage aus dem Donbass

Gefangen in der Todeszone

Im Städtchen Lyman suchen die letzten verbliebenen Einwohner nahe der Front in modrigen Kellern Zuflucht vor Geschossen und haben panische Angst vor dem Einmarsch russischer Soldaten. Doch sie kommen nicht mehr weg. Reportage aus dem Donbass.

Die graumetallene Rakete steckt noch im Rasen. Einen Sprengkopf hatte sie nicht. Dafür trug sie zahlreiche kleinere Splitterbömbchen. Sie flogen über den ganzen Innenhof der Wohnsiedlung und explodierten beim Aufschlag. „Das war gestern“, ruft Swetlana, die gerade etwas frische Luft vor dem Kellereingang schnappt. Es sind nur wenige Schritte, die sie sich von der rotstichigen alten Holztüre weg wagt.
Die warmen Strahlen der Frühlingssonne kann sie nicht genießen. Immer wieder blickt sie nervös zum Himmel. „Seit die Russen das Krankenhaus beschossen haben, bekommen wir keine Ruhe“, sagt sie. Sie deutet auf die gegenüberliegende Regionalklinik ihrer Heimatstadt Lyman.

Artilleriegranaten haben das Gebäude in Brand gesteckt und die Verbindungspassage zwischen zwei Abteilungen völlig zerstört. Zum Glück hatte die Verwaltung zwei Tage zuvor das Krankenhaus evakuiert. Sonst hätte es zahlreiche Tote und Verletzte gegeben.


Lyman ist normalerweise eine beschauliche Kleinstadt mit etwa 20.000 Einwohnern im Norden des Donbass nahe Kramatorsk. Sie liegt in einem Erholungsgebiet mit traumhaften Pinienwäldern und Seen. Nicht umsonst nennt man es hier die „ukrainische Schweiz“. Heute bestimmt jedoch der Krieg den Takt in diesem Urlaubsort. Ständig donnern Geschütze. Man hört das Rauschen von Raketenwerferbatterien und Explosionen. Lyman ist eine Stadt an der Front. Die russische Armee rückt vor, langsam, aber doch täglich ein Stück näher. Die Einnahme Lymans wäre für die russischen Truppen ein wichtiger Schritt, um auf Städte weiter südlich in den Donbass vorzustoßen.

„Unsere Wohnung ist im siebten Stockwerk“, sagt die 45-jährige Swetlana, die zu ihrer roten Jacke einen bunten Rock trägt. „Aber nun wohnen wir im Keller.“ Es sind zwei winzige Räume, in denen sie sich mit Mann und Sohn eingerichtet hat. Ein Vorraum mit Tisch und Zweiplattenherd dient als Küche. In einer Ecke zwei Mountainbikes. Ein schmaler und niedriger Zugang führt in den Schlafraum – Liege und Doppelbettmatratze auf dem porösen Betonboden. Alles, was ihr wichtig ist, hat die Familie aus ihrer Wohnung in den Keller geschafft. Ihre Habseligkeiten stapeln sich in wackeligen Regalen entlang der Wände zwischen Plastiktellern, Pfannen, Salami und Eiern. Darunter sind auch ihre gepackten Koffer. „Wir sind jederzeit bereit, abzuhauen“, versichert Eugen, Swetlanas Mann. „Wir bleiben nicht hier, wenn die Russen einmarschieren sollten. Jeder weiß, was für schreckliche Dinge sie in Butscha angerichtet haben“. Er steht in Strumpfsocken auf der Matratze und raucht eine Zigarette. Dabei ist die Luft schon stickig genug in diesem verstaubten Kellerraum.

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