Gastkommentar

Warum Desinformation tötet, direkt und unmittelbar

Peter Kufner
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Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit. Warum es eine Graswurzelrevolution der Medienbildung braucht – ein Vorschlag.

Manchmal, in dunklen, pessimistischen Momenten, denke ich: Was muss eigentlich noch passieren, bevor eine lethargische Bildungspolitik – trotz des Desinformationsgewitters der Gegenwart – aus ihrem Tief-schlaf erwacht? Was braucht es, bevor die Medienpädagogik ihr oft anspruchsloses, verdruckst-opportunistisches Herumgefloskel über irgendwelche Digitalkompetenzen einstellt und endlich zu einer klaren, fassbaren und anschaulichen Sprache findet? Und was muss geschehen, bevor die offene Gesellschaft begreift, dass sie mit ihrer Weigerung, Medienbildung mit normativer Entschiedenheit zu betreiben, sehenden Auges ihre eigenen Grundlagen zerstört?

Der Autor

Bernhard Pörksen (*1969 in Freiburg im Breisgau) studierte Germanistik, Biologie und Journalistik. Er ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Kürzlich erschien sein neuestes Buch: „Digital Fever. Taming the Big Business of Disinformation“ (Palgrave Macmillan).

Nach den Pro-Brexit-Feldzügen, dem Wahlsieg Donald Trumps mithilfe von Putins Trollen, nach der Pandemie-Infodemie und im Gewirbel der Fake News zum Ukraine-Krieg sind drei Befunde unabweisbar. Erstens destabilisiert die systematische Verschmutzung der Informationskreisläufe überall auf der Welt Demokratien und verleiht Antiliberalen Auftrieb, wie zahlreiche Studien im Detail zeigen. Zweitens sind die asymmetrischen Wahrheitskriege skrupelloser Populisten im Verbund mit den Fehlanreizen der sozialen Netzwerke – Dissens schüren, aufpeitschen, emotionalisieren – geeignet, die Fähigkeit von Politik und Gesellschaft zu untergraben, aktuelle Großkrisen zu lösen.

Nach 40 Minuten Propaganda

Denn diese Krisen (man denke beispielhaft an den Klimawandel) setzen einen basalen Realitätskonsens, einen gemeinsamen Fokus und ein Denken in der langen Linie voraus. Wenig ist also gerade jetzt so nötig wie die Kombination von Konsens, Kompromissfähigkeit, Konzentration und langfristiger Strategiebildung. Und doch wird genau diese Gesprächs- und Strategiefähigkeit ganzer Gesellschaften im Zusammenspiel von gezielter Propaganda und algorithmischer Plattformlogik unterminiert. Und drittens ist längst offensichtlich, dass Desinformation tötet, und zwar ganz direkt und unmittelbar. Denn irgendwann greifen die QAnon-Spinner zu den Waffen oder stürmen das Kapitol. Und nur mal nebenbei: Durchschnittlich 40 Minuten nach der Installation der TikTok-App sind die Userinnen und User das erste Mal mit Falschmeldungen und russischer Propaganda aus dem Ukrainekrieg konfrontiert. Sie sehen Video-Fakes, aber natürlich auch viele authentische Bilder des Schreckens, Explosionen, Erschießungen. TikTok liefert aktuell hoch emotionales Echtzeit-Fernsehen im Schnipsel-Format für junge Menschen, ein Mischprogramm aus Lüge, Wahrheit und Gewalt, ungefiltert, ohne klärende Einordnung.

Was folgt aus all dem? Muss man den Kampf gegen Desinformation verloren geben? Ich denke nicht. Was nötig wäre, ist eine Art Graswurzelrevolution der Medienbildung, die aus dem Journalismus kommt. Und tatsächlich, dafür gibt es Ansätze und Anzeichen, die Hoffnung machen. Journalistinnen und Journalisten gehen in die Schulen, erarbeiten Lehrmaterialien, engagieren sich in der Lehrerfortbildung. Es gibt Online-Workshops, Podcasts, Medien-Projekte mit neuen faszinierenden Initiativen und Kooperationen, Initiativen, die die Medienmündigkeit in der Breite der Gesellschaft steigern wollen. Die Grundidee dieser Medienbildungsoffensive von unten ist bestechend einfach. Sie besagt: Journalismus ist viel mehr als ein Beruf. Denn in den journalistischen Idealen und Maximen – „Prüfe erst, publiziere später!“, „Analysiere deine Quellen!“, „Höre auch die andere Seite!“, „Orientiere dich an Relevanz und Proportionalität!“, „Sei skeptisch!“ – liegt eine konkrete Kommunikationsethik, die heute alle angeht. Natürlich gibt es auch schlechten Journalismus, Herden- und Meutenverhalten, doofes Clickbaiting, sinnlose Skandalisierung, klar. Aber in der Kenntnis der basalen journalistischen Regeln der Informations- und Quellenprüfung steckt tatsächlich eine Chance. Hier sind die Anfänge einer praktischen Utopie zu entdecken. Hier findet sich ein Ausweg aus dem Desinformationsspektakel in Richtung einer redaktionellen Gesellschaft von Bürgerinnen und Bürgern, die medienmächtig und -mündig sind.

Handhabe mit Bullshittern

Ist damit alles gelöst? Gewiss nicht. Denn noch fehlen erprobte Konzepte der Plattformregulierung, die einerseits die Kommunikationsfreiheit und den Mündigkeitsgedanken schützen, aber es andererseits erlauben, Hassrede und Falschnachrichten wirklich massiv zu begrenzen. Noch fehlt die effektive Handhabe im Umgang mit professionellen Bullshittern, Spindoktoren oder auch Spindiktatoren, die ihr eigenes Volk mit einer Kombination aus Propaganda und Terror in eine riesige Sekte verwandeln wollen, eine Gemeinschaft der fanatisiert Gläubigen, die entweder auf Bestellung jubeln oder nach ein paar Schauprozessen in einer Gefängniszelle zum Schweigen gebracht werden.

Intoleranz der Intoleranz

Ja, es stimmt: Die gewaltigen Desinformationskosten, die in den letzten Jahren offensichtlich geworden sind, erfordern eine entschiedenere, schärfere Gegenwehr der offenen Gesellschaft. Die Gewaltaufrufe in den Katakomben der Telegram-Kanäle müssen mit anderer Härte und Geschwindigkeit verfolgt werden. Und manchmal braucht es – dies ist nicht schön, nicht elegant, aber leider mitunter unvermeidlich – die absolut entschiedene Intoleranz gegenüber der Intoleranz, von der schon der urliberale Philosoph Karl Popper sprach. Aber im Akt der Bekämpfung von Desinformation verteidigt eine Demokratie immer auch ihre eigene Würde und ihre eigenen Werte. Sie muss also schon in der Art der Auseinandersetzung zeigen, dass sie den Aufklärungsgedanken nicht verloren gibt. Und eben darin liegt die eigentümliche Schönheit jeder Bildungsidee: Sie setzt bis zum absolut endgültigen Beweis des Gegenteils auf das bessere Argument, die Kraft des Diskurses.

Was bleibt also anderes, als auf die Mündigkeit des Einzelnen und die Stärkung der Urteilskraft zu vertrauen, die in den Schulen trainiert werden muss, aber eben nicht nur hier? Aus meiner Sicht wäre es, auch jenseits der Schulgebäude, lang schon ein Gebot der Stunde, ein großes Gespräch über publizistische Maßstäbe und die Schulung der Urteilskraft zu initiieren. Es wäre ein Austausch und eine Debatte, die auch dem Journalismus nützen könnte und die eine bestenfalls verschlafene Bildungspolitik inspiriert; diese braucht – jenseits einer bloß naiv-modischen Technikfaszination und des allgemeinen Digi-Blabla – dringend normative Klarheit.

Vielleicht haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, also Lust, am internationalen Tag der Pressefreiheit, der am 3. Mai stattfindet, mit ein paar Menschen Ihrer Wahl über die neuartige Macht der Propaganda, den Wert des unabhängigen Journalismus und die besten Wege zur Medienmündigkeit zu debattieren? Damit wäre viel gewonnen, denke ich. Die Idee der redaktionellen Gesellschaft wäre dann, und sei es nur für einen Tag, ein Stück gelebter Wirklichkeit.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2022)

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