Quergeschrieben

Die Ukraine, das Bauernopfer in einem geopolitischen Schachspiel

Ist Putin-Versteher, wer einen für Russen und Ukrainer akzeptablen Kompromiss den Waffenlieferungen und Kampfhandlungen vorzieht?

Schon interessant, jede Krise kreiert offenbar ein eigenes Vokabular. „Gutmensch“ erblickte 2015 das Licht einer aufgekratzten Diskursöffentlichkeit, 2022 huscht der „Putin-Versteher“ durchs Feuilleton. Klar, schlagwörtliche Simplifizierungen sind die unterkomplexe Würze jeder Polemik. Wer seinen Mund nicht verbrennen lassen möchte, hält ihn lieber. Mit Putin-Versteher wird rechts und links abgestempelt – also solche Menschen, die auf Anti-Corona-Demos Russland-Fahnen schwenken. Und solche, die Putins Angriffskrieg als völkerrechtswidrig verurteilen und trotzdem auf einen Kompromiss hoffen, weil sie davon überzeugt sind, dass ein friedliches Europa nur mit, nicht gegen Russland möglich ist. „Man stelle sich nur einmal vor, in Mexiko würden an der Grenze zu den USA russische Raketen stationiert“, warnt die deutsche Feministin Alice Schwarzer vor einer allzu simplen Dämonisierung Wladimir Putins: „Wir haben ja 2003 auch mit dem amerikanischen Präsidenten gesprochen, obwohl die angeblichen Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein von Anbeginn an eine durchsichtige Lüge waren, der Irak-Krieg genauso verbrecherisch wie der Ukraine-Krieg und die zivilen Opfer nicht weniger.“ Schon kassiert Schwarzer das Etikett „Putin-Versteherin“ sowie den Vorwurf des Bothsidesism, also der falschen Ausgewogenheit. Differenziertes Argumentieren? Kaum mehr möglich. Weshalb der deutsche Publizist Wolfgang Koydl feststellt: „Schlichte Gemüter wollen schlichte Narrative. Hier tapferer Held, da feiger Mörder. Ja, Putin ist der Aggressor. Aber eine in Hell und Dunkel, Gut und Böse geteilte Welt, die gibt es nur in Comics, in Hollywood oder in den Medien.“

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Vielleicht wäre dieser Tage die Lektüre von Zbigniew Brzezińskis Buch „The Grand Chessboard“ („Die einzige Weltmacht“, 1997) empfehlenswert, in dem Jimmy Carters Sicherheitsberater die geopolitisch eminente Bedeutung der Ukraine analysiert: „Eurasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft weiterhin ausgetragen wird.“ Nun machen die USA 33 Milliarden Dollar für die Ukraine locker, die Hälfte davon für die militärische Aufrüstung; ein neues Gesetz erlaubt umfangreiche Waffenlieferungen. Präsident Joe Biden rechnet übrigens mit einem längeren Krieg. Ist ja eh nur auf europäischem Boden. „Fuck the EU“, ätzte US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland 2014, sie war als Unterabteilungsleiterin im US-Außenministerium für diese Region zuständig. In Nulands abgehörtem Telefonat mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew ging es auch um fünf Milliarden Dollar, die Ex-Präsident Barack Obama in eine den USA genehme ukrainische Regierung investieren wollte. Vitali Klitschko sollte ihr übrigens nicht angehören. Er wurde stattdessen Kiewer Bürgermeister.

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