Im März 1938 begann der Terror gegen die jüdische Bevölkerung in Österreich. Die Republik besann sich spät ihrer Verantwortung.
Nationalsozialismus

Verspätete Wiedergutmachung für NS-Opfer

Eines der wichtigsten moralischen Projekte der Zweiten Republik wurde jetzt abgeschlossen: der Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus.

Man kann es den österreichischen Medien nicht verübeln, dass sie angesichts der Kumulation von Krisen die Meldung wenig berücksichtigt haben. Sie kam am 26. April, und es ging um die endgültige Auflösung des Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus. 25.000 Personen waren seit der Einrichtung des Fonds vor 21 Jahren begünstigt worden, 215 Millionen US-Dollar betrug die ausgezahlte Summe. Damit ist eines der größten Projekte der Zweiten Republik zur teilweisen Restitution von Vermögensraub abgeschlossen.

Das ist mehr, als sich durch eine nüchterne Präsentation von Zahlen darstellen lässt: Es geht hier um das Thema der moralischen Verantwortung eines Landes für das, was den Opfern in Österreich angetan worden ist, es geht um die Anerkennung, dass sie beraubt und ausgeplündert worden sind, es geht bei diesem Thema um das „historische Selbstverständnis unseres Landes“, wie die langjährige Generalsekretärin des Fonds, Hannah Lessing, in ihrem Statement am Ende ihrer Arbeit formulierte.

Etappenweise vollzog sich das Ende dieses Fonds, bereits vor zwei Jahren erschien ein abschließender Bericht (er wurde in der „Presse am Sonntag“ vom 31. Mai 2020 vorgestellt), etappenweise vollzog sich die Entwicklung hin zu seiner Gründung. Eigentlich muss man mit dem 30. Oktober 1943 anfangen, mit dem bekannten Moskauer Memorandum der alliierten Mächte, dessen erster Teil in den Nachkriegsjahrzehnten der Zweiten Republik wesentlich zum staatlichen Selbstverständnis beitrug: Österreich sei das erste freie Land gewesen, das der Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen sei. Der zweite Teil, dass das Land eine Verantwortung trage, der es nicht entrinnen könne, wurde zunächst weniger rezipiert.

Zu früh gab es einen „Schlussstrich“

Es war hilfreich für die Identitätsfindung einer Nachkriegsmehrheit, sich als Opfer zu fühlen. Zumindest bis in die 1990er-Jahre. Österreich hatte bis dahin unter dem massiven Druck der Alliierten, vor allem der USA, einige Maßnahmen zur Kompensation von geraubtem Vermögen getroffen, durch die sogenannten Rückstellungsgesetze. 1961 zog man einen „Schlussstrich“. Eine Entschädigung für gestohlene, aber nicht mehr vorhandene Vermögenswerte und andere Verluste stand nicht zur Diskussion. Man sah dies als alleinige Aufgabe Deutschlands.

Nach sehr langer Zeit machte sich das Land auch an die Analyse seiner Täterrolle. Der Diskurs geriet in Bewegung, die Themen Restitution, Beschlagnahmung von Kunstwerken, Sammelklagen vor US-Gerichten und Ansprüche von Zwangsarbeitern kamen aufs Tapet. 1995, zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Republik, setzte der Nationalrat mit der Schaffung eines Nationalfonds zur Entschädigung der Opfer eine „moralische Geste“. Mit 50 Jahren Verspätung.

Es sei ein Gebot des politischen Anstands, ein „Brückenschlag zu den Opfern“. Den Reden von Bundeskanzler Franz Vranitzky über die Mitschuld von Österreichern an NS-Verbrechen sollten Taten folgen. Die FPÖ sah das anders, sie stimmte dem Entschließungsantrag nicht zu, weil auch „Altösterreicher deutscher Zunge“ 1945 durch die Alliierten Leid erlitten hätten.

Mehr als eine Geste zur Gewissensberuhigung war das Gesetz wirklich nicht, es schuf eine Art Härteausgleichsfonds für in Not befindliche Emigranten, ohne Rechtsanspruch. Es bestand die Gefahr, dass er wegen seiner geringen Dotierung von den rund 30.000 noch lebenden Opfern des Naziterrors als demütigend empfunden werden könnte. Am 30. Mai 1995 wurde der mit 500 Millionen Schilling dotierte Opferfonds im Nationalrat beschlossen und als Richtwert ein Betrag von 70.000 Schilling (in Etappen) pro Antragsteller vorgesehen. Ob das Volk diese Geste verstehen würde, war ungewiss.

Währenddessen wurde die Zahl der überlebenden Opfer immer kleiner, für Hunderte kam der Fonds zu spät, und nicht alle, die infrage kamen, meldeten sich. Die unmittelbar betroffenen Opfer reagierten viel zögernder als die folgenden Generationen. „Kannst du mir meine Mutter aus Auschwitz zurückbringen? Kannst du mir meine Kindheit zurückgeben?“ sagte Erich Lessing seiner Tochter Hannah, als sie in fragte, ob sie den Job als Generalsekretärin annehmen sollte. Sie nahm ihn an in dem Bewusstsein, Versöhnung auf keinen Fall erzwingen zu können, „aber man könne den Menschen den Glauben an die Heimat zurückgeben“.

Tatsächlich wurden die Mitarbeiter des Fonds im Lauf der Zeit zu Gesprächspartnern und Vertrauenspersonen. Der Akt des Zuhörens, die Erhebung der Biografie und ihre Dokumentation wurden von den Überlebenden als Anerkennung erlebt, als Interesse an ihrem Leid und ihrer Geschichte. Einige Male gelangen Familienzusammenführungen, Privatschicksale wurden dokumentiert, in Schulen Aufklärungsarbeit geleistet.

Im Jahr 2000 wurde dann im Zusammenhang mit den Zwangsarbeiter-Entschädigungen durch einen „Versöhnungsfonds“ das Thema Restitution virulent, also Entschädigung für Vermögensverlust durch „Arisierung“ zwischen 1938 und 1945, vor allem Wohnungen und Geschäftsräumlichkeiten, Hausrat und persönliche Wertgegenstände. Vor dem „Anschluss“ lebten in Österreich 190.000 Juden, sie hatten Versicherungspolizzen, Bankkonten, Mietwohnungen, sie hatten Vermögen und Geschäfte. Es war daher nicht realistisch, einen vollen Betrag rückzuerstatten, und der österreichische Sonderbotschafter Ernst Sucharipa einigte sich mit US-Verhandler Stuart Eizenstat auf je 7000 Dollar an rund 21.000 Betroffene.

Lob für Schüssels ÖVP-FPÖ-Koalition

Ende Februar 2001 wurde das Allgemeine Entschädigungsfondsgesetz im Nationalrat verabschiedet. Österreich habe damit den Opfern „a certain measure of justice“ zukommen lassen, so Stuart Eizenstat, der viel Lob spendete für Österreich, auch die Regierung von Wolfgang Schüssel, eine schwarz-blaue Koalition. Interessant das Datum, an dem die formellen Gespräche begonnen hatten: Es war der 4. Februar 2000, der Tag, an dem die ÖVP-FPÖ-Regierung angelobt wurde. Gleich danach erteilte Bundeskanzler Schüssel, erinnert sich der Diplomat Hans Winkler, den Auftrag, an jüdische Opferverbände in den USA die Bereitschaft zu signalisieren, in Verhandlungen über offene Fragen der materiellen Entschädigung von Holocaust-Opfern einzutreten.

Winkler berichtet weiters, warum die Regierung damals Tempo machte: „Der damalige Bundeskanzler Schüssel hat zu Recht angenommen, dass man die positive Stimmung, die in der österreichischen Bevölkerung herrschte, im österreichischen Parlament ausnützen sollte, um die vereinbarten Dinge schnell umzusetzen. Wenig bekannt ist, dass im März 2001 Gemeinderatswahlen in Wien bevorstanden, der Kanzler wollte das Entschädigungspaket aus der Diskussion heraushalten.“

Der Nationalfonds hatte die Kompetenzen, das zu machen, er wurde nun auch zum „Entschädigungsfonds“ und konstituierte sich im November 2001. Der Abschlussbericht dokumentiert das Spannungsverhältnis, in dem gearbeitet wurde: Auf der einen Seite eine begrenzte Summe Geld, zu wenig, um alle Forderungen abzugelten, auf der anderen Seite die moralische Verantwortung und das Bewusstsein: Geld kann das geschehene Unrecht nicht aus der Welt schaffen oder gutmachen.

Morgen auf den Geschichte-Seiten der „Presse am Sonntag“: Die Angst vor der Atombombe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2022)

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