Gery Keszler
Serie: Wiener Originale

Brokat und blanke Busen gegen Intoleranz

Zu Beginn ist es ein »schwuler Aufschrei«.In mehr als 25 Jahren entwickelt sich das Lebenswerk vonGery Keszler – der Wiener Life Ball – zum Fest des Lebens, zur größten Spendengala Europas.

Man feiert gern in Wien. Zweimal im Jahr lädt Kaiser Franz Joseph zum Hofball und bittet 800 Gäste zum „Souper nach dem Cotillon“. Ausgelassener geht es in der Vorstadt zu. Auf den Fiaker-Bällen wie beim Gschwandner in Hernals geben sich der Knackerl, s' Rostbratl und der Brustfleck Rendezvous – die Spitznamen der bekanntesten Fiaker kennt die ganze Stadt.

Auf den Wäschermädl-Bällen tanzen die goscherten Schönheitsköniginnen der Peripherie in ihren kurzen, gestreiften Röcken und dem grell getupften Kopftüchl. Die Frisur ist mit Schweineschmalz glänzend aufgebaut. Die hohen, benagelten Stiefeletten geben bei Walzern und Landlern den Takt an. Bis der Milchmann mit die Müllikandln scheppert wird bei Refosco, Riesling und Ribiselwein gefeiert.

Illustration:Peter Sengl

LEBENSLINIEN


Mehr als 100 Jahre später hat Gerald Gery Keszler, ein Feinmechaniker und Visagist aus Mödling, der zeitweise auch als Zirkuskoch und Opalschürfer in Australien arbeitet, eine Idee. Nachdem er in Los Angeles eine gigantische Charity-Modeschau für Liz Taylor, die als eine der ersten Hollywood-Stars ihren Ruhm im Kampf gegen Aids einsetzt, erlebt.

Organisiert ist das laszive Spektakel vom Fashion-Paradiesvogel Thierry Mugler, der beweist, dass man auch aus Metall und Plexiglas Kleider gestalten kann. Keszler, der für Mugler als Visagist arbeitet, ist beeindruckt. Gemeinsam mit Torgom Petrosian, einem Arzt einer Drogenberatungsstelle, gründet er 1992 den Verein Aids Life mit dem Ziel, Geld aufzubringen, um an Aids leidende Menschen zu unterstützen.
Mit eigenen Mitteln finanziert Keszler ein Jahr später ein freizügiges Fest des Lebens, ein Event der homosexuellen Szene, den von Bürgermeister Zilk – „Helfts dem Buam! “ – ermöglichten Life Ball im Wiener Rathaus. Keszler klebt die Plakate selbst. Nur 150 Karten werden verkauft.
Ein paar Jahre später sind Tickets binnen weniger Minuten vergriffen und werden im Schleich gehandelt. Die Spendensumme wird immer höher. Von Elton John, Liza Minelli und Sharon Stone bis Bill Clinton kommen prominente Unterstützer nach Wien, um Geld für den Kampf gegen Aids zu sammeln.

Am 29. Mai 1993 findet der erste Charity-Ball statt. Ein Leuchtturm der Lebensfreude. Mit Glanz und Glamour, Brokat und blanken Busen, Lack und Leder, Strapsen und Federboas. Mit Freaks und Paradiesvögeln in Glitzerstiefeln und Harlekinkostümen aus Tausenden Pailletten. Topmodel Helena Christensen, Thierry Mugler und Vivienne Westwood sind dabei. Das Thema Aids ist längst international mit der Modewelt verknüpft. Keszlers Freund Petrosian ist an Aids erkrankt, liegt im Spital – und bekommt nur für den Ball Ausgang. In einem Rokoko-Kostüm mit zentimeterdicker Schminke erscheint er im Rathaus. Petrosian sollte nur den ersten Ball überleben. „Aids war damals eine unheilbare Schwulenpest“, erinnert sich Alfons Haider, „jeder hatte Freunde verloren. Der Ball war zu Beginn ein schwuler Aufschrei.“

Drei Jahre lang traut sich Helmut Zilk nicht, auf dem zu Beginn skeptisch betrachteten Tuntenball zu erscheinen. Als der Bürgermeister das erste Mal dabei ist, erscheint er in der Perücke seiner Frau, Dagi.
Bald ist der Ball mit dem Ziel, die Gesellschaft für das stigmatisierte Thema Aids zu sensibilisieren, eine Selbstverständlichkeit. Als Ventil eines von Vorurteilen bestimmten Lebens vieler Menschen am Rand der Gesellschaft. Aus dem schrillen Schwulenball entwickelt sich ein weltweiter Szenetipp. Man will in Wien dabei sein, wenn Weltstars und Fashionstars wie Cavalli und Gaultier, Galliano, Versace und Westwood ihre Mode auf dem Life Ball präsentieren, Sängerinnen wie Anastacia und Katy Perry, Models wie Naomi Campbell und Heidi Klum für den guten Zweck auftreten.

Und die Benefizgala für HIV-Positive und an Aids erkrankte Menschen wird zu einem Synonym für das tolerante und weltoffene Wien. Ein Fest, das Stadtgeschichte schreibt. Präsidenten feiern mit Drag-Queens, Hollywood-Stars tanzen mit Aids-Opfern. Als Baumeister Lugner behauptet, „Homosexualität ist gefährlich“, lädt ihn Keszler vom Ball aus.
Gery Keszler, der mehr als ein Vierteljahrhundert das Charity-Ereignis mit zuletzt 40.000 Gästen und Zuschauern durchführt, das sich zu einer der weltweit größten Aids-Spendengalas entwickelt, ist als Ehrengast 2019 im Pariser Rathaus beim ersten Paramour-Ball zugunsten der Aidshilfe dabei. Als Hommage auf den Life Ball tanzt das Ballett der Pariser Oper den Donauwalzer. In jener Stadt, wo Keszler 27 Jahre zuvor in einem Café seinen früh verstorbenen Freund Torgom von der Idee, ein Fest des Lebens für Aids-Kranke zu organisieren, überzeugen kann.

Inzwischen lebt Gery Keszler auch im Südburgenland. Wo er Erdäpfel anbaut und Marmelade einkocht. In einem Kellerstöckl in der Nähe von Güssing schafft er sich sein privates Rückzugsgebiet. Vor einigen Monaten öffnet er es. Mit einem Rokoko-Fest. Als Dank für die Unterstützung der von ihm initiierten „Austria for Life“-Initiative. Jetzt hilft er durch Corona in Not geratenen Menschen. Unter den Gästen ist Kardinal Schönborn. Beeindruckt, dass Keszlers Engagement nicht aufhört.1963 Geburt am 27. Juli in Mödling.


1987 Erfolgreich als Visagist in Paris.


1992 Gründung des Vereins Aids Life.


1993 Erster Life Ball im Wiener Rathaus.


2008 Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.

www.michael-horowitz.at

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