Es gibt gute Gründe für die EU, einer Gruppe gegenüber offen zu sein: Russinnen und Russen, die ihr Land verlassen.
Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg verlassen Millionen Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine ihre ukrainische Heimat und suchen Schutz in Ländern Europas, wo sie überwiegend auf große Hilfsbereitschaft treffen. Fast gleichzeitig setzte auch eine massive Auswanderungswelle aus Russland ein: Die drastischen Einschränkungen der Freiheitsrechte, das Risiko einer möglichen Generalmobilisierung sowie wirtschaftliche Einschränkungen durch internationale Sanktionen führten dazu, dass bereits in den ersten Wochen nach dem Angriff geschätzte 300.000 Russinnen und Russen das Land verließen. Fluchtziele sind vor allem Länder ohne Visumrestriktionen wie Armenien, Georgien oder die Türkei.
Bei den Ausreisenden handelt es sich primär um junge, hochqualifizierte Menschen. Insbesondere der in Russland boomende IT-Sektor verlor dadurch innerhalb kürzester Zeit Zehntausende Beschäftigte. Es wird erwartet, dass sich diese Bewegung in den nächsten Monaten fortsetzt – auch weil die ersten Emigrantinnen und Emigranten den Weg für weitere Auswanderung ebnen.
DER AUTOR
Andreas Steinmayr(geboren 1983 in Oberösterreich) ist Professor für empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Innsbruck. Zuvor forschte und lehrte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein Forschungsgebiet ist die angewandte Mikroökonometrie mit einem Schwerpunkt auf die Ursachen und Auswirkungen internationaler Migration.
Ein düsterer Ausblick
Für Russland verschärft die jüngste Auswanderungswelle eine massive demografische Krise, die bereits seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Gange ist. In den wirtschaftlich und politisch turbulenten 1990er-Jahren sank die Fertilitätsrate auf unter 1,3 Kinder pro Frau, während gleichzeitig die Mortalität stark anstieg. Auch wenn es zwischendurch eine Verbesserung gegeben hat, erlebt Russland seither einen Bevölkerungsrückgang bei gleichzeitig starker Alterung der Bevölkerung. Ein Faktor, der diese Entwicklung nochmals verstärkt, ist die Covid-19-Pandemie. Russland verzeichnet seit dem Beginn der Pandemie eine Übersterblichkeit von rund 1,2 Millionen – das sind 0,8 Prozent der gesamten Bevölkerung.
Die Geburtsjahrgänge der 1990er-Jahre sind heute zwischen 20 und 30 Jahre alt. Die geringe Kohortengröße dieser Jahrgänge erzeugt jetzt in dreifacher Hinsicht Probleme in Russland. Zum Ersten fehlen wichtige Arbeitskräfte. Die Zahl der Personen im Haupterwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren wird vom Höchststand im Jahr 2013 (rund 95 Millionen) bis zum Jahr 2030 voraussichtlich auf 81 Millionen Personen zurückgehen (Quelle: „UN Population Forecast, 2019“). Zum Zweiten fehlen potenzielle Eltern. Selbst wenn die Fertilität stark anstiege – was derzeit nicht zu erwarten ist –, würde die Zahl der Geburten in Russland aufgrund der geringen Zahl möglicher Eltern weiter zurückgehen. Zum Dritten manifestiert sich die geringe Kohortengröße der 1990er-Jahrgänge in fehlenden potenziellen Soldaten, da Wehrpflichtige in der Altersgruppe von 18 bis 27 Jahren rekrutiert werden.
Für den Kreml gilt die demografische Entwicklung bereits länger als großes Problem. Mit einer Reihe von familienpolitischen Maßnahmen wurde daher auch versucht, diesem gegenzusteuern. Angesichts des tristen Ausblicks ist es allerdings mehr als fraglich, ob nennenswerte Verbesserungen zu erwarten sind.
Schwächung Putins
Während ein überwiegender Teil der russischen Bevölkerung den Angriffskrieg auf die Ukraine zu unterstützen scheint, so stehen viele junge, gebildete Menschen dem System Putin skeptisch gegenüber. Aktuell ist es für diese Personen in Russland beinahe unmöglich, sich gegen den Krieg auszusprechen, da sie Repressalien befürchten müssen. Eine liberale Visumpolitik des Westens würde ihnen aber eine Möglichkeit bieten: „voting with their feet“, also mit ihren Füßen abzustimmen und Russland den Rücken zu kehren. Die USA arbeiten tatsächlich auch schon daran, die Einwanderung von russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu vereinfachen.
Der russische Präsident, Wladimir Putin, bezeichnete all jene Menschen, die unmittelbar nach Kriegsbeginn das Land verlassen haben, als Verräter und sprach von einer Reinigung der russischen Bevölkerung. Gleichzeitig ist er aber auf diese relativ hochgebildeten Personen, viele mit Expertise im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich, angewiesen.
Eine Fortsetzung der Abwanderung Hochqualifizierter würde das russische Militär und die Wirtschaft weiter schwächen und die demografischen Schwierigkeiten weiter verstärken. Solch eine Entwicklung findet nicht zum ersten Mal statt: Auch in Nazi-Deutschland führte die Flucht hochgebildeter Jüdinnen und Juden zu einer signifikanten Schwächung der Wirtschaft und Wissenschaft.
Neben dem direkten Verlust von Köpfen und Humankapital besteht die Hoffnung, dass die russische Diaspora Einfluss auf die politische Entwicklung Russlands nimmt.
Beispiel Moldawien
In einer Studie zur ehemaligen Sowjetrepublik Moldawien konnten wir zeigen, dass Auswanderung in den Westen zur Stärkung liberaler, proeuropäischer Parteien beitrug. Der Kontakt mit unzensierten Informationen, alternativen politischen Institutionen und den Wirtschaftssystemen demokratischerer Länder veränderte die Sichtweise der Migrantinnen und Migranten, die diese Sichtweise wiederum auf ihre Kontakte in Moldawien übertrugen. Die Sorge, dass der politische Einfluss von Migranten in Europa die russischen Kräfte in Moldawien schwächt, wird auch vom russischen Geheimdienst geäußert.
Migration zwischen kooperierenden Staaten kann auch für das Auswanderungsland Vorteile mit sich ziehen. Die Effekte eines Brain-Drains, also der Auswanderung der besten Köpfe, werden durch zusätzliche Anreize, in mehr Bildung zu investieren, kompensiert (Brain-Gain). Emigration führt zu Wissenstransfers, mehr Investitionen und Handel. In der aktuellen politischen Situation sind solche Effekte allerdings nicht zu erwarten – Russland würde sich primär mit den negativen Effekten konfrontiert sehen.
Ergänzung zu Sanktionen
Länder in Europa und anderen Teilen der Welt sollten daher die Einwanderung dieser Personen erleichtern, die viel Expertise mitbringen, nach der auf dem Arbeitsmarkt eine große Nachfrage besteht. Kurz- und mittelfristig würde das zu einer weiteren Schwächung von Putins Russland führen und die Rhetorik vom bösen Westen in Russland unglaubwürdiger machen. Langfristig könnte diese Auswanderung aber auch positive Effekte auf Russland haben, wenn dadurch politische und wirtschaftliche Brücken entstehen. Und eine liberale Visumpolitik würde bestehende Sanktionen gut ergänzen.
Im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Sanktionen, die bei allen Russinnen und Russen Nachteile erzeugen, würden Visa zwar das Regime schwächen, aber der (kritischen) russischen Bevölkerung die Hand ausstrecken und ihr eine Perspektive bieten.
Jede Woche gestaltet die „Nationalökonomische Gesellschaft" (NOeG) in Kooperation mit der "Presse" einen Blog-Beitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften.
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