Obsorge

Asylrechtsexperte: Anzahl verschwundener Flüchtlingswaisen "besorgniserregend"

Fast sechsmal so viele unbegleitete Minderjährige wie im Vorjahr sind in Österreich 2021 verschwunden.
Fast sechsmal so viele unbegleitete Minderjährige wie im Vorjahr sind in Österreich 2021 verschwunden.APA/dpa/Philipp Schulze
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Drei Viertel der unbegleiteten geflüchteten Minderjährigen sind in Österreich 2021 spurlos verschwunden. Die Behörden wissen nichts über ihren Verbleib. Kinderhandel oder -prostitution werden dahinter vermutet.

4489 Flüchtlingswaisen sind 2021 in Österreich spurlos verschwunden. Das entspricht 180 Schulklassen – oder auch 78 Prozent aller unbegleiteten Minderjährigen, die im letzten Jahr in Österreich um Asyl angesucht haben. Ein erschreckender Anstieg: 2020 war der Aufenthaltsort von 764 Kindern unbekannt, was in etwa der Hälfte der unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen entsprach. Die Behörden machen keinen Hehl daraus, dass sie „nicht wissen“, was mit den Betroffenen geschehen ist.

Diese Zustände sind „sehr besorgniserregend“, meint der Asylrechtsexperte Lukas Gahleitner-Gertz gegenüber der „Presse". Es sei zu befürchten, dass hinter dem Verschwinden der Minderjährigen Kinderhandel steckt. Die Behörden vermuten ähnliche Hintergründe und geben Kinderhandel, Drogenkriminalität oder Kinderprostitution als mögliche Ursachen an.

Finanzierungs- und Personalprobleme bei der Unterbringung verschärfen das Problem noch zusätzlich. Nur 607 Kinderflüchtlinge insgesamt kamen 2021 zur Betreuung in speziellen Einrichtungen unter. 800 Kinder und Jugendliche mussten im vergangenen Jahr in Bundesquartieren versorgt werden, weil die Länder keinen Platz hatten. Durch die fehlende Obsorge steige der Frustrationsgrad, was die Minderjährigen wiederum leichter in die Hände von Kriminellen treibe, meint Kinder-Flüchtlingsexpertin Lisa Wolfsegger.

Verschwinden verfälscht Zahl der Asylanträge

Für Gahleitner-Gertz sind die Entwicklungen ebenso schockierend, wie auch ein Weckruf. Das Verschwinden der unbegleiteten Minderjährigen lege nahe, dass Pullfaktoren bei der Flucht nach Österreich keine allzu große Rolle spielen können. Immer wieder wird aber von diversen Stellen behauptet, dass ein Großteil der hier ankommenden Menschen nicht aus dem Heimatland vertrieben wird, sondern sich in Österreich eine Verbesserung der Lebensumstände erhofft. Die prekären Zustände bei der Betreuung, insbesondere von Minderjährigen, würden offenkundig dieses Argument konterkarieren, meint der Experte.

Außerdem zeige die Zahl der verschwundenen Kinder, dass die vom Innenministerium ins Treffen geführten hohen Asylantragszahlen kritisch betrachtet werden müssen. Die Zahl der tatsächlichen Asylverfahren werde unter anderem durch die fehlenden minderjährigen Antragsstellenden massiv gedrückt. Unzählige Verfahren müssten eingestellt werden, weil Kinder verschwinden oder in andere Länder weiterreisen, sagt Gahleitner-Gertz. Es sei keine Frage, dass hier dringend gegengesteuert werden müsse.

„Obsorge ab dem ersten Tag" soll Abhilfe schaffen

Eine wichtige Rolle im Kampf gegen Kinderhandel und -prostitution spielt die „Obsorge ab dem ersten Tag", meint der Experte. Damit könne der Zustand, dass niemand für die betroffenen Kinder verantwortlich ist, beendet werden. Die Weichen für einen besseren Schutz unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge hat Justizministerin Alma Zadic (Grüne) Anfang der Woche gestellt. Beim Gipfel der zuständigen Landesräte war man sich einig, dass eine frühere Obsorge die Zustände verbessern könne.

Insbesondere der Ukraine-Krieg hat das Obsorge-Problem noch verstärkt. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges kämen unzählige unbegleitete Kinder in Österreich an. Die Klärung der Obsorge dauere oft sehr lange, heißt es aus dem Justizministerium. Es sei dringend geboten, diese Prozesse zu beschleunigen. „Zustände wie bisher, in denen es oft tage- oder sogar wochenlang dauerte, bis klar war, wer für unbegleitete minderjährige Schutzsuchende verantwortlich ist, sind einfach nicht mehr tragbar“, hält Zadic diesbezüglich fest. Ein Entwurf für eine bundesweit einheitliche Regelung wurde inzwischen vorgelegt.

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