Die Anfänge des modernen sportaffinen Gehens sind in England zu finden, wo man bereits im 19. Jahrhundert einschlägige Wettbewerbe veranstaltete. Hand in Hand mit der Etablierung eines neuen Gesundheitsbewusstseins fügte sich das Gehen ideal in den Zeitgeist der Jahrhundertwende.
Ich weiß nicht genau warum, aber seit geraumer Zeit durchquere ich die Stadt deutlich schneller als sonst. Sitzt mir immer noch der Corona-Stress im Nacken, oder ist es die Ungeduld des zunehmenden Alters? Wie auch immer: Meine Schritte haben sich merklich beschleunigt. Und wenn der Körper sich schneller bewegt, eilen ebenso die Gedanken dahin, in alle Richtungen, auch in die Vergangenheit. Denn da war das körperbetonte Schnell- und Distanzgehen einmal eine viel bestaunte Novität. Eine Attraktion und Unterhaltung für die Massen, die ausdauernde Geher lautstark anfeuerten, bisweilen aber auch ungeniert verspotteten.
Die Anfänge des modernen sportaffinen Gehens sind in der kompetitiven Kultur Englands zu finden, wo man bereits im 19. Jahrhundert einschlägige Wettbewerbe veranstaltete. Schon im Jahr 1866 fanden hier erstmals Meisterschaften im Wettgehen statt. Ab den 1880er-Jahren setzte die Verbreitung auf dem europäischen Kontinent ein, wobei die zurückgelegten Entfernungen rasch zunahmen. Hand in Hand mit der Etablierung eines neuen Körper- und Gesundheitsbewusstseins fügte sich das Gehen ideal in den Zeitgeist der Jahrhundertwende. Auch in Wien waren in jenen Jahren immer häufiger ambitionierte Geher anzutreffen. Eigene Vereine wurden gegründet, wie der „Erste Wiener Distanz- und Dauergeherclub“ oder der „Gehsportklub Austria“.
Im Frühjahr 1893 wurde ein ganz besonderer Wettbewerb ausgeschrieben: ein Distanzmarsch von Berlin nach Wien, also über fast 600 Kilometer. Insgesamt 15 Teilnehmer brachen vom Tempelhofer Feld auf, darunter drei Vegetarier, wie die Historikerin Birgit Pack rekonstruierte, die dem aufsehenerregenden Ereignis eine Studie widmete. Zahlreiche Zeitungen in Deutschland und Österreich berichteten darüber, verfolgten die Fortschritte der Geher jeden Tag aufs Genaueste. Dass die neue Mode des Vegetarismus auch hier Einzug gehalten hatte, befeuerte, so Pack, das Interesse zusätzlich.
Schon am ersten Tag zog sich das Feld auseinander, Radfahrer übernahmen die Begleitung, auch die Kontrolle der Distanzgeher. Einzelne Abschnitte anders als gehend zurückzulegen war natürlich strengstens verboten, zwischen 22 und vier Uhr war Nachtruhe einzuhalten. Der Verlauf des Marsches entwickelte sich bald dramatisch. Schon am zweiten Tag musste der bis dahin Führende mit gerissener Fußsehne aufgeben, in der Folge setzten sich die zwei Vegetarier Otto Peitz und Arno Elsässer ab. Zwei gänzlich unterschiedliche Typen, wie ein Reporter feststellte: „Während Peitz ziemlich angegriffen aussah, überraschte Elsässer durch sein vortreffliches Exterieur: nicht echauffiert, nicht abgespannt, man glaubte, einen Spaziergänger vor sich zu haben.“

Als die beiden sich am 4. Juni Wien-Floridsdorf näherten, pilgerten Hunderte Schaulustige zur Stadtgrenze. Der Jubel war groß, der Spott mitunter auch. Eine viel gelesene Satirezeitschrift brachte eine Karikatur, in der die Geher von Kohlrabi anbietenden Naschmarkt-Verkäuferinnen empfangen wurden. Peitz ging schließlich als Erster durchs Ziel, wurde allerdings nachträglich disqualifiziert, da er die Nachtruhe nicht eingehalten hatte. Strahlender Sieger war somit der 27-jährige, aus Magdeburg stammende Arno Elsässer, der für die gesamte Strecke lediglich vier Tage und elf Stunden gebraucht hatte. Die letzten Konkurrenten kamen erst Tage später ans Ziel.