Hauptbild
•
Sieger des Eurovision Song Contests 2022: Kalush Orchestra aus der Ukraine
•
(c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO
"Stefania" von Kalush Orchestra wurde zum besten der 25 vorgetragenen Songs beim Eurovision Song Contest 2022 gewählt. Auch aus politischen Gründen.
Die Wahl beim Eurovision Song Contest in Turin fiel auf "Stefania" der ukrainischen Teilnehmer Kalush Orchestra . Sie galten bereits im Vorfeld als Favoriten – aus politischen Gründen, wie oft kritisch angemerkt wurde. Ob „Stefania“ oft im Radio zu hören sein wird, darf bezweifelt werden. Die Mischung aus Rap, Pop und Folklore ist eigenwillig und dürfte sich nicht nahtlos in den Formatradio-Songteppich einfügen. Dabei macht das doch gerade die Stärke des Beitrags aus. Die Ukraine stellt mit dem Kalush Orchestra ihre kulturelle Eigenständigkeit aus (die ihnen der russische Machthaber abspricht).
Man orientiert sich musikalisch am Westen, ohne die kulturellen Wurzeln zu verlieren. Live wurde der Song mit dem eingängigen Refrain und der einzigartigen Flötenmelodie mitreißend vorgetragen, mitsamt eines Breakdancers. Eindeutige politische Botschaften verkniffen sich die beiden Rapper des Kalush Orechestra während des Wettbewerbs – bis zum Finale. „Bitte helfen Sie der Ukraine, Mariupol, helfen Sie Azowstal jetzt", sagte Sänger Oleh Psiuk, nachdem der letzte Ton verklungen war. „Slava Ukraini“, rief er nach dem Sieg.
Unregelmäßigkeiten gab es bei den Votings der Jury : Sechs Länderjurys stimmten im zweiten Halbfinale ungewöhnlich ab. Die European Broadcasting Union (EBU), die den Song Contest veranstaltet, hat angegeben, dem nachzugehen. Das Finale versuchten russische Hacker durch einen Cyberangriff zu stören - sie scheiterten an der italienischen Polizei, die mit 100 Mann die Attacke abwehrte.
Kalush Orchestra mit "Stefania". Der Mix aus Folklore-Elementen - etwa die Flöte und der melancholische Klang der Gesangsstimme - mit Beats und einer guten Bühnenshow kommen offenbar gut an. Den politischen Aspekt einzuberechnen wird schwer - was wiegt er tatsächlich? Im Radio werden wir „Stefania” wohl kaum mehr hören. Doch der Beat nimmt einen mit, die Bühnenshow ist gut. (c) REUTERS (YARA NARDI) Sam Ryder mit "Space Man". Im britischen Beitrag erwartet uns eine spannende Stimme. Der Refrain fährt schon ziemlich gut los, die Strophen passen nicht ganz dazu. Man hat das Gefühl, diese Akkordfolgen schon tausend Mal gehört zu haben. Mit dabei: eine Gitarre, die auf dem Rücken hängen darf, bis zum Fake-Gitarrensolo. Und dann wieder ignoriert wird bis zum Ende. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Chanel mit "SloMo". Haare, ein freizügig geschnittener Bodysuit, Glitzer, Torrero-inspirierte Outfits. Spanien liefert Choreographie, Rhythmus und einen Dancetrack auf durchaus hohem Niveau. Für die Show gibt's zwölf Punkte, der Rest wirkt etwas ESC-00er-Jahre-Style, etwas zu belanglos. Aber die Inszenierung, die fährt! (c) REUTERS (YARA NARDI) Cornelia Jakobs mit "Hold Me Closer". Das suchen Pop-Produzenten heutzutage: eine scheinbar zerbrechliche Stimme mit Charakter. Achten Sie einmal auf das ständige Nebengeräusch, mit dem Cornelia Jakobs vor allem in den späteren Refrains singt. Das nennt man “Creaking” (unter anderem), ist oft eine Art Geräusch-Nebenprodukt, wenn man eigentlich etwas "zu faul" singt. Aber ist total in. Kann man natürlich auch kontrollieren lernen. Und dann noch die Coolness, mit der Jakobs wie nach einer durchzechten Nacht locker und unprätentiös ganz bei sich scheint. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Konstrakta mit "In corpore sano". Serbien, was war das für eine Überraschung! Keine Haarchoreographie, kein Ethno-Herrentrio, keine Diva im langen Abendkleid mit Ballade? Aber was war das? Mit unverwandtem, traurigen Blick in die Kamera lässt sich die Sängerin die Hände waschen und singt in immer nicht allzu hoher, eher eintöniger Tonlage über Gesundheit. Eine Show wie eine Theaterinszenierung. Bleibt jedenfalls in Erinnerung - auch dank dem etwas anderen Mitklatschteil. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Mahmood & Blanco mit "Brividi". Die Stimme Mahmoods fügt sich wunderbare in die italienische Klangradition a la Ramazotti ein. Blanco sorgt für den Boyband-Touch. Aber beide singen großartig und liefern eine schöne, nicht zu schnulzige Ballade - und können auf der Bühne gemeinsam Emotionen aufbauen. Brividi, Brividi, das bleibt hängen. So ein echtes Duett gibt es auch nicht oft zu hören beim Song Contest. (c) IMAGO/TT (IMAGO/Jessica Gow/TT) Zdob și Zdub & Fraţii Advahov mit "Trenuleţul". Wenn man „Cotton Eye Joe“ mag und ein Faible für moldauische Ethno-Klänge samt Geige und Ziehharmonika hat, dann ist man hier richtig. „Hey Ho, let's go“. Auch positiv anzumerken: Endlich mal jemand, der auch die Vorbühne ausnutzte, um näher an das Publikum heranzukommen. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Amanda Georgiadi Tenfjord mit "Die Together". Griechenland verzichtet heuer komplett auf Folkloreklänge und setzt auf synthetisch klingende Mehrstimmigkeiten a la Effektgerät samt schöner Dynamik vom Leisen ins Laute. Eine Ballade mit Potenzial. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Maro mit "Saudade, saudade". Sehnsucht, Sehnsucht also. Da stellen sich sechs Sängerinnen in einen Kreis und singen wunderbar mehrstimmig. Immer mit sanftem, luftigem Klang. Könnte man auch als langweilig empfinden. Aber die Harmonie war durchaus großartig und beruhigend. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Subwoolfer mit "Give That Wolf A Banana". Was soll man sagen, außer „Yum yum banana". Eine absurde Nummer mit Beat. Ob die Sänger unter ihren Masken auch tatsächlich live singen (was die Regeln vorschreiben) ist nicht zu sehen. Das hätte auch alles vom Band kommen können. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) S10 mit "De Diepte". Die 21-jährige Sängerin Stien bietet eine etwas statische Performance, bezaubert aber mit zerbrechlicher Stimme und echter Emotion. Ihr zerbrechliches Ladadada-Outro mit Tränen in den Augen war jedenfalls einer der schönen Momente des Halbfinales - trotz traurigen Texts. (c) REUTERS (YARA NARDI) Ochman mit "River". Eine Pop-Stimme, wie man sie derzeit oft hört. Okay, es zieht Ochman dann doch eher mit dunkel-klassischem Timbre in den langgezogenen Oooohs in nicht ganz so kratzig-poppige Klänge. Und dann gibt er sich im Refrain die volle Ladung Falsett, also diese hohe Stimme, die viele Sänger eigentlich wenig Anstrengung kostet, wenn man’s richtig macht. Aber er treibt die Höhe schon wirklich an die Grenze des Einfachen, keine Frage. Auch auffallend: Das Lied wirkt so, als hätte es mehrere Grundrythmen, der Beat ist nicht wirklich durchgehend, auch wenn sich das Tempo nicht wirklich ändert. Durch vielen verschiedenen Gesangsteilen wirkt das Lied nicht wirklich als Einheit. Aber gute Gesangsperformance definitiv. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Stefan mit "Hope". Die Johnny-Cash-Stimme wird mit einem Scheinbar-Alt-Filter über dem Livebild noch ins Klischeehafte verstärkt. Aber die Westerngitarren verdichten sich mit einem treibenden Schlagzeugbeat zu keiner untanzbaren Nummer. Die Gitarre hängt allzu bald nur noch am Rücken von Stefan. Im Refrain wird man schon aufgefordert mitzusingen, während Stefan versucht, im Laufschritt von einem Mikrofon auf der Bühne zum nächsten auf der Vorderbühne vor dem Wasserfall zu kommen. Der Rest der Stimmen kommt vom Backingtrack (oder den Backgroundsängern). (c) REUTERS (YARA NARDI) Monika Liu mit "Sentimentai". Mit ihr haben wohl nicht viele im Finale gerechnet. Im Mireille-Mathieu-Lockdown-Gedenktopfschnitt präsentiert sich Monika Lui alleine im Glitzerkleid. Definitiv keine für das Mainstream-Radio gemachte Nummer. Aber nicht unspannend, wenn die Sängerin ihre elegante Stimme mit leichten Verzierungen um die Melodien spinnt. (c) REUTERS (YARA NARDI) Sheldon Riley mit "Not The Same". Eine emotionale Geschichte aus dem eigenen Leben in eine extravagante Show mehrmals auf die Bühne zu bringen - das verlangt schon nach einer Portion Mut und Kraft. Sheldon Riley beeindruckt jedenfalls mit dramatischer Stimme und dunklem Timbre, die er auch in den höhen bestens beherrscht. Kleine Verzierungen, die an arabische Melismen denken lassen, tummeln sich in all seinen Linien. Stimmlich sicher eine der besten Performances des Abends, insgesamt vielleicht etwas gar düster und dramatisch. Ein Glitzerperlen-Gesichtsschleier spricht nun einmal auch eine eigene Sprache. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Nadir Rustamli mit "Fade To Black". Mit leiser heiserer Stimme gestartet, über fast in Richtung klassischen Klängen Zwischenstopp landet Nadir Rustamli sogar kurz in rockigen Tönen. Die Klavier-Bewegungen klingen ein wenig nach der Musik der TV-Serie “Downton Abbey”. Und dann kommt eine Minute vor Ende noch die Bass-Drum und hebt in Richtung Disco-Beat ab. Und Rustamli schraubt sich in lichte Falsetthöhen. Etwas viel auf einmal dann in den letzten Sekunden, inklusive Geschluchze. (c) REUTERS (YARA NARDI) Marius Bear mit "Boys Do Cry". Der junge Schweizer singt sich mit wiedererkennbarer Stimme durch eine ganz ruhige Nummer mit Jazz-Klängen ins Finale. Auch wenn er nicht so viel “knödelt” wie der legendäre Louis Armstrong, irgendwie erinnert seine Art des Singens an ihn. (c) REUTERS (YARA NARDI) WRS mit "Llámame". Gehen die Oberteile der Backgroundtänzer noch als Croptop durch - oder ist das schon nur mehr ein Kragen mit Arm-Auslass? Man hat ausführlich Zeit, über diese Frage zu sinnieren, ohne musikalisch etwas zu verpassen. Kann man diesen Song um vier Uhr in der Vorstadt-Disko auflegen? Klar! Und mitklatschen und mitsprechen (mitsingen?) geht im Refrain natürlich auch. (c) REUTERS (YARA NARDI) Jérémie Makiese mit "Miss You". James-Bond- bzw. “Rise Lika A Phoenix”-Streicher zu Beginn, gepaart mit einer coolen Stimme und einem wummernden Bass, der viel Platz für einen guten Beat lässt. Könnte auch eine Justin-Timberlake-Nummer sein. Falsett ist heuer offenbar hoch im Kurs. Aber klingt immer gut, im Gegensatz zu den paar anderen hohen Stimmeinsätzen, die dann doch etwas gequält herauskommen. Spannende Stimme jedenfalls. (c) REUTERS (YARA NARDI) Rosa Linn mit "Snap". Eine nur wenige Takte genutzte und dann achtlos beiseite gelegte Gitarre untermalt die sanfte Stimme von Rosa Linn, die dann durchaus noch Stärke zeigt. Eine nette kleine Pop-Nummer mit netten Bühneneffekten und weißen Fetzen-Post-its. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) The Rasmus mit "Jezebel". Genau so stellt man sich einen Rasmus-Song zwanzig Jahre nach ihrem großen Hit “In The Shadows” vor. Ähnlich, nur ein bisschen schlechter. In der Strophe würde man Sänger Lauri Ylönen fast Schwäche attestieren, im Refrain legt er wie gewohnt los, mit rockigem Timbre und diversen Stimmeffekten, die man aus dem Rock-Genre gewohnt ist. Es darf eben ein bisserl rauer klingen. Ungewohntes musikalisches Stilmittel: die zweite Strophe in einer anderen Tonart als die erste, im Refrain gehts zurück. Und Regenmäntel auf nackter Haut - das pickerte Gefühl muss man auch mögen. Kein Wunder, dass der Mantel bald weg war für die weitere, weitaus konventionellere Modulation, ein bisserl höher in den letzten Refrain. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) We Are Domi mit "Lights Off". Eine Laser-Disko-Nummer aus Tschechien, die der Sängerin - im Gegensatz zu Österreich - aber genug Zeit zur Erholung und tiefe Strophen gibt. Dafür fehlt vielleicht etwas der Druck der guten Art, den so eine Nummer braucht. Und der Gitarrist bedient sein Instrument mit einem Bogen für Streicher, muss auch für etwas gut sein. (Analyse: Klemens Patek) (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Systur mit "Með hækkandi sól". Island und Portugal könnten eine nette Allianz heuer eingehen. Es wird gehaucht und mehrstimmig gesungen - ein Countrytrio ohne Pep. Den Schlagzeuger hätten sie sich jedenfalls sparen können. Das Lied gewinnt aber mit Dauer an Kraft und Mitwipp-Faktor. (c) APA/AFP/MARCO BERTORELLO (MARCO BERTORELLO) Alvan & Ahez mit "Fulenn". Frankreich, das ist mal eine Elektrik-Tanznummer, die man sich im Club um drei Uhr früh vorstellen kann. Die Melodie des einstimmigen Chores wirkt eindringlich, aber einfach, ein paar arabische Rhythmen und Breaks und fertig ist der feine Track. (c) IMAGO/TT (IMAGO/Jessica Gow/TT) Malik Harris mit "Rockstar". Ein Ein-Mann-Band ist Malik Harris, der für Deutschland zu Beginn Klavier, e-Drums und Akustikgitarre anspielt. Die Story und die Optik des "verlassenen" Liveband-Equipments wirken stimmig. Am stärksten ist Harris dann beim Rap-Part in der zweiten Liedhälfte, da kommt die Emotion wirklich am besten durch. Der Rest ist ein nettes Liedchen mit einer raunzigen Stimme, wie sie jetzt eben in ist. (c) IMAGO/Pacific Press Agency (IMAGO/Tonello Abozzi) Platz 1 bis 25: Die Songs beim Song Contest in der Einzelkritik Bei den Jurys am besten abgeschnitten hat überraschenderweise Sam Ryder mit "Space Man" aus Großbritannien. Er lag am Ende auf Platz drei der Gesamtwertung. Ryder hat spannende Stimme, wobei Refrain und Strophen nicht ganz zusammen passen und insgesamt wenig im Ohr bleiben. Auf Platz drei kam Spanien. Chanel lieferte mit "SloMo" Choreografie, Rhythmus und einen Dancetrack auf durchaus hohem Niveau.
Insgesamt hat sich der Song Contest im heurigen Jahr wieder ein Stück weit von seinem Image als zu belächelnder Wettbewerb, bei dem sich Nachbarländer Punkte zuschieben, entfernt. Die teilnehmenden Länder haben den Ehrgeiz, herzuzeigen, was sie als musikalische Qualität erachten. Wenngleich durchaus Schräges zu sehen war: Für Norwegen standen Subwoolfer auf der Bühne. Unter Wolf-Masken und mit seltsamen gelben Outfits sangen sie Nonsens in „Give That Wolf A Banana“. Dada zum Mittanzen. Für Serbien trat Konstrakta mit "In corpore sano" an, wusch sich drei Minuten lang die Hände und kritisierte dabei den Kult um Prominente und den Mangel an einer Sozialversicherung für Künstler. Sehr „artsy“. Zwölf Jury-Punkte gab es dafür erstaunlicherweise aus Kroatien.
„Douze Points“ gegen das Gefühl der Ohnmächtigkeit Nur dass die Nation auch ein wesentlicher Faktor beim Abschneiden war, hat sich wieder bewahrheitet. Man kann es dem abstimmendem Publikum und den mitentscheidenden Jurys nicht verdenken. Unaussprechliches geschieht in der Ukraine, und wenn man die eigene Ohnmächtigkeit ein wenig damit bekämpfen kann, indem man der Ukraine „Douze Points“ gibt, wieso nicht?
Lesen Sie mehr zu diesen Themen: