Gastkommentar

Plädoyer für eine Nebenstimme

Eine Wählerin bei den Gemeinderatswahlen in der Steiermark am 28. Juni 2020 in Gratwein-Straßengel.
Eine Wählerin bei den Gemeinderatswahlen in der Steiermark am 28. Juni 2020 in Gratwein-Straßengel.(c) APA/ERWIN SCHERIAU
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Immer wieder werden Änderungen des Wahlrechts erörtert – die Reform der Sperrklausel bleibt dabei aber ausgespart.

Der Autor

Eckhard Jesse (geb. 1948) ist emeritierter Professor an der TU Chemnitz. Er fungierte zwischen 2007 und 2009 als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Der Herausgeber des „Jahrbuchs Extremismus & Demokratie“ zählt zu den führenden Wahl- und Parteienforschern.

Deutschland und Österreich sind Demokratien. Zu ihren wesentlichen Elementen gehören Wahlen, die in regelmäßigen Abständen stattfinden. Der Teufel steckt im Wahlrechtsdetail. Das zeigt ein Vergleich zwischen den Wahlrechtsbestimmungen. Dauert in Deutschland die Wahlperiode für den Bundestag vier Jahre, so beträgt sie in Österreich für den Nationalrat fünf Jahre. Und bei den Bundesländern gibt es auch – kleine – Unterschiede. Die Bürger wählen die Landtage jeweils für fünf Jahre: bis auf Bremen (vier Jahre) und Oberösterreich (sechs Jahre).

Das aktive Wahlrecht (das Recht zu wählen) wurde in beiden Ländern immer wieder gesenkt, in Österreich von 20 auf 19 (1968), dann auf 18 (1992), schließlich auf 16 (2007), in Deutschland von 21 auf 18 (1970). Ähnliches gilt für das passive Wahlrecht (das Recht, gewählt zu werden): in Österreich von 26 auf 25 (1968), später auf 19 (1992) und 18 (2007), in Deutschland von 25 auf 21 (1970) und 1976 auf 18. In Deutschland hat der Bundestag im März 2022 eine Wahlrechtskommission eingesetzt, die u. a. die Senkung des aktiven Wahlrechts auf 16 Jahre prüfen soll. Auf der Agenda stehen zudem die Verkleinerung des Bundestages, die Geschlechterparität in den Parlamenten, die Dauer der Legislaturperiode, die Begrenzung der Amtszeit des Regierungschefs sowie die Bündelung von Wahlterminen.

In Deutschland und Österreich

Was weder in Deutschland noch in Österreich in den Blick gerät: die Reform der Sperrklausel. Sie liegt in Deutschland bei fünf Prozent, in Österreich bei vier Prozent. Dabei sollte darüber nachgedacht werden, nicht im Sinne einer Abschaffung, sondern im Sinne einer Reform. Der Wahlausgang im Saarland am 27. März gibt dazu reichlich Anlass. Die Grünen scheiterten hauchdünn mit 4,995 Prozent der Stimmen an der Fünf-Prozent-Hürde, die Liberalen mit 4,8, die Postkommunisten mit 2,6 Prozent. 22,3 Prozent der Stimmen blieben unverwertet, weil sie auf Parteien mit einem Anteil von weniger als fünf Prozent fielen. Die SPD kam so mit 43,5 Prozent der Stimmen klar auf eine absolute Mandatsmehrheit.

Die Fünf-Prozent- bzw. Vier-Prozent-Klausel soll die Regierungsfähigkeit erleichtern. Jedoch hat eine solche Hürde ihre Tücken. Nicht jede Stimme wird verwertet – die Stimmen der Wähler für Parteien, die keine fünf oder vier Prozent erreicht haben, fallen unter den Tisch. Das ist kritikwürdig. Schließlich zählt der Wahlakt zu den Formen der politischen Partizipation, von denen die Bürger am meisten Gebrauch machen.

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