Hinweise auf den Einsatz verbotener Phosphorbomben über dem umkämpften Stahlwerk.
Kiew. Russland hat das Stahlwerk in der Hafenstadt Mariupol nach ukrainischen Angaben mit Phosphorbomben beschossen. „Die Hölle ist auf die Erde gekommen. Zu Azovstal“, schrieb der Mariupoler Stadtratsabgeordnete Petro Andrjuschtschenko am Sonntag im Nachrichtenkanal Telegram. Er veröffentlichte dazu ein Video mit Luftaufnahmen, auf denen ein Feuerregen zu sehen ist, der auf das Stahlwerk niedergeht. Allerdings gab es dazu vorerst keine offizielle Bestätigung unabhängiger Beobachter. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete von einem Video, das der prorussische Kommandant Alexander Khodakovsky auf Telegram gestellt hatte. Auch dieses zeigt brennende Munitionskaskaden auf das Stahlwerk. Phosphorbomben entzünden sich durch Kontakt mit Sauerstoff und richten verheerende Schäden an. Ihr Einsatz ist international verboten.
Von ukrainischer Seite wird der Angriff auf das Stahlwerk mit Brandbomben mit dem Sieg der ukrainischen Teilnehmer beim Eurovision Song Contest in Zusammenhang gebracht. Als Beweis, dessen Quelle unbekannt blieb, wurden Bilder veröffentlicht, die eine Aufschrift auf einer der niedergegangenen Bomben zeigen. Da stand auf Russisch zu lesen: „Kalusha, wie gewünscht! Auf Azovstal“; und auf Englisch „Help Mariupol, help Azovstal right now“ (Helft Mariupol – helft Azovstal sofort) mit dem Datum 14. Mai. Der Sänger der beim ESC siegreichen Band Kalusha Orchestra hatte auf der Bühne in Turin diese Worte in einem Appell verwendet. Im Stahlwerk haben sich nach ukrainischen Angaben noch rund 1000 Verteidiger von Mariupol verschanzt. Sie lehnen russische Aufforderungen ab, sich zu ergeben.
Britische Militärgeheimdienste gaben indes eine Schätzung bekannt, wonach Russland rund ein Drittel der im Februar für die Invasion der Ukraine aufgestellten Bodentruppen bereits verloren habe. „Trotz kleiner anfänglicher Vorstöße hat Russland in den vergangenen Monaten keine substanziellen Territorialgewinne verzeichnet, während es kontinuierlich hohe Verluste hinnehmen musste“, schrieb das britische Verteidigungsministerium mit Hinweis auf die Geheimdienstangaben auf Twitter.
Auch der stellvertretende Nato-Generalsekretär Mircea Geoan? zeigte sich für die Ukraine optimistisch: „Dank des Muts der ukrainischen Armee und unserer Hilfe kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen“, sagte er am Rande informeller Beratungen der Nato-Außenminister Sonntagfrüh in Berlin. Die russische Offensive in der Ukraine verliere bereits „an Schwung“.
Die russischen Streitkräfte haben nach ukrainischen Angaben in der Region Lwiw (Lemberg) im Westen des Landes nach tagelanger Pause erstmals wieder mit Raketen militärische Infrastruktur beschossen. Nach dem Angriff Sonntagfrüh sei nichts über Tote oder Verletzte bekannt, teilte der Chef der Militärverwaltung, Maxym Kosyzkyj, mit. Das Ausmaß der Zerstörung werde noch untersucht. Es war demnach das erste Mal seit etwa einer Woche, dass es Luftalarm in der Region nahe der polnischen Grenze gab. Im Lagebericht des russischen Militärs gab es dazu zunächst keine Angaben.
Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, dass bei Luftschlägen im Verlauf der Nacht zwei ukrainische Gefechtsstände, elf Truppenansammlungen und vier Munitionslager getroffen worden seien. Die Ziele lagen demnach im Gebiet Donezk in der Ostukraine. Bei Angriffen mit Artilleriefeuer seien sechs weitere Kommandostellen und 123 Ziele mit Truppen und Technik getroffen worden, so der Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow. Dabei seien 150 ukrainische Kämpfer „vernichtet“ worden. Die russische Luftabwehr habe zudem in den Gebieten Luhansk, Donezk und um die Schlangeninsel im Schwarzen Meer 15 Drohnen abgeschossen, sagte Konaschenkow. In den Gebieten Charkiw und Cherson seien zudem Raketen abgefangen worden. Von unabhängiger Seiten überprüfbar waren die russischen Angaben ebenfalls nicht.
Festnahmen und Filtrationen
Offenkundig ist, dass die Lage für die im russisch besetzten Cherson zurückgebliebenen Bewohner immer schwieriger wird. Dies belegt eine Recherche der Austria Presse Agentur. „Medikamente gehen zu Ende, unter anderem auch in den Krankenhäusern“, erläuterte ein Einwohner. Gleichzeitig klagte er über laufende Festnahmen und „Filtrationen“ durch die russischen Besatzer. „Menschen verlassen zu Tausenden die Stadt, und wir tauchen sukzessive in eine Art Anarchie ein, die an die Situation unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den frühen Neunzigerjahren erinnert.“ Es gebe weder eine Regierung noch klare Regeln. Der Anhänger einer ukrainischen Eigenstaatlichkeit sprach von einer „leeren Stadt“ und ging davon aus, dass zumindest die Hälfte der Stadtbewohner, 150.000 Menschen, seit Beginn der russischen Besatzung Anfang März ihre Heimatstadt verlassen haben. (ag.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2022)