Die Ich-Pleite

Aufgeben gibt's nicht

Carolina Frank
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Meine neue Post­filiale ist viermal so weit entfernt wie die alte. Dummerweise darf man nicht mit dem Rad hinfahren, denn das Nordbahnviertel ist noch eine Großbaustelle. Nur die Post ist schon da.

Früher, als die Welt noch binär war, konnte man die Männer an bestimmten Merkmalen erkennen. Sie waren nicht alle gleich, aber es gab doch bestimmte statistische Häufungen. Neben den einfach zu beschreibenden Kriterien (Körpergröße, Behaarung, Shampoo, Stimme, Blickrichtung) gab es auch typisches Gesprächsverhalten. Es konnte von einer gewissen Dürftigkeit sein. Umso interessanter war es, so eine Dumpfbacke mal aus der Reserve zu locken. War einer ein bisschen angeschlagen oder ein bisschen rauschig oder ein bisschen verliebt, konnte man mit ihm schon auch sekundenweise das machen, was bei Jane Austen heißt: „Über Dinge reden.“

Also nicht nur über Autos, Computer oder Fußball, sondern auch über das seltsame Ding namens Gefühlsleben. Lang ging das aber meist nicht gut. Wurde eine Schwäche oder gar eine Versagensangst zu brutal eingekreist, kam schnell der Befreiungsspruch: „Auf­geben gibt’s nicht, aufgeben tu ich nur einen Brief.“ Heutzutage würde dieses Wortspiel nicht mehr funktionieren. Denn es ist auch sehr schwierig ­geworden, einen Brief aufzugeben. Oder abzuholen. Meine neue Post­filiale ist viermal so weit entfernt wie die alte. Dummerweise darf man nicht mit dem Rad hinfahren, denn das Nordbahnviertel ist noch eine Großbaustelle. Nur die Post ist schon da. Ich hab’ mich also als Baufahrzeug getarnt und durch die Baustellenzufahrt gekämpft.

In der schönen neuen Post erfuhr ich dann, dass mein gelber Zettel mich in die falsche Filiale geschickt hat. Der Brief liegt gar nicht in der Bruno-Marek-Allee, sondern in der Weintraubengasse. Ist eh erst zum dritten Mal passiert. Ich kurve einfach retour, stell’ mich wieder an, Problem gelöst. Aufgeben gibt’s nicht. Aufgeben tu ich nur die Post.

("Die Presse Schaufenster" vom 20.05.2022)

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