Filmkritik

„Everything Everywhere All At Once“: Ein drittes Auge schadet nie

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film everything everywhere all at onceConstantin / A24
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Mehr ist hier mehr: In „Everything Everywhere All At Once“ geht Michelle Yeoh mit Paralleluniversen auf Tuchfühlung. Eine außergewöhnliche filmische Wundertüte.

Können Sie sich noch daran erinnern, was sie früher als Kind einmal werden wollten? Astronaut? Rennfahrerin? Sonderbeauftragter für Radieschenvermessung im indonesischen Landwirtschaftsministerium? Jetzt stellen Sie sich vor, all ihre Träume von damals hätten sich verwirklicht – in Myriaden von Paralleluniversen. Was wäre, wenn Sie plötzlich mit all diesen alternativen Ichs in Kontakt treten und deren Fähigkeiten anzapfen könnten?

Eine aberwitzige Vorstellung. Und die Kernidee eines außergewöhnlichen neuen Films mit dem schön maximalistischen Titel „Everything Everywhere All At Once“. Ab Freitag läuft er in den Kinos. Das in der jüngeren Popkultur überstrapazierte Plot-Konzept des Multiversums – siehe „Doctor Strange 2“, „Spider-Man: No Way Home“, „Rick and Morty“ – wird hier mit besonders lustvoller Konsequenz durchexerziert.

Dabei fängt alles ganz harmlos an: Evelyn Wang (Hongkong-Actionfilm-Legende Michelle Yeoh) plagt sich mit dem Leben. Ihr Waschsalon-Unternehmen läuft schlecht. Der fordernde Vater (James Hong) ist eben aus China zum einst verstoßenen Kind gezogen, der tapsige Gatte Waymond (rührend: Stuntchoreograf Ke Huy Quan) steht nur im Weg herum. Und Tochter Joy (Stephanie Hsu) will dringend Anerkennung für sich und ihre lesbische Partnerin.

Regisseure mit wilden Fantasien

Dann schlägt auch noch die Steuerbehörde zu. Mitten im Klärungsgespräch (toll: Jamie Lee Curtis als pedantische Bürokratin) beginnt Evelyn, Stimmen zu hören. Waymond flüstert ihr zu, er sei gar nicht Waymond, sondern ein Dimensionsreisender. Und Evelyn eine Auserwählte, von der das Schicksal aller bestehenden Universen abhängt. Nur sie kann deren zerspragelte Kräfte bündeln. Und sie vor einem Ungetüm namens Jobu Tupaki beschützen, dass die Alleinheit aus bloßem Weltverdruss zerstören will.

So weit, so klassisch: Abgesehen von der Besonderheit des migrantischen Settings beginnt „EEAAO“ wie zig andere Fantasy-Abenteuer. Doch die Umsetzung macht den Unterschied: Regie und Drehbuch verantwortete das junge Kreativteam der „Daniels“ (Daniel Scheinert und Daniel Kwan). Wo viele Filmemacher ihre Einfälle zügeln, um das Publikum nicht zu verschrecken, lassen die beiden ihren wildesten Fantasien freien Lauf. Und: Sie verfügen auch über die technischen Fertigkeiten, um selbige wirkungsvoll auf die Leinwand zu bringen.

Sind die Parallelexistenzen erstmal verknüpft, schäumt der Film nur so über vor Verblüffungseffekten. Evelyn mutiert zur mannigfaltig begabten Superheldin, indem sie die Talente aller alternativen Versionen ihrer selbst für sich beansprucht. Kung-Fu-Künste zählen da noch zur Grundausstattung – auch bei anderen Figuren, die sich gleichfalls in Alter Egos verwandeln.

Mit Wurstfingern die Welt retten

Mit steigerndem Furor stapeln sich Actionszenen, Absurditäten und cineastische Anspielungen auf- und übereinander. Albernheit und Affekt gehen dabei Hand in Hand: In manchen Universen haben alle Menschen wabblige Wurstfinger. Anderswo sind sie schmähstade Steinbrocken. Doch macht sie das weniger menschlich? Passenderweise ist das dritte Auge, das sich hier am Gipfelpunkt transdimensionaler Bewusstseinserweiterung öffnet, nur ein Plastik-Flankerl mit lustiger Kuller-Pupille.

Das Motiv der Identitätssplitterung ist hier ist jedoch mehr als bloßer Vorwand für formale Spielereien: Es steht auch für psychische und emotionale Herausforderungen (nicht nur) des Internetzeitalters. Etwa für die berüchtigte „Fear of Missing Out“ – die von Info-Überschuss befeuerte Angst, etwas Spannendes zu versäumen. Und für die Gefahr, in totaler Indifferenz zu versinken – die hier von einem hypnotisch kreisenden Bagel des Bösen symbolisiert wird.

Die sich irgendwann einstellende Überforderung ist Programm. Sie klopft uns weich für das humanistische Pathos, das die Daniels geschickt ins Geschehen schmuggeln – wie schon in ihrem ebenso exzentrischen Film „Swiss Army Man“, in dem Daniel Radcliffe einen flatulierenden Leichnam spielte. Im Kern geht es in „Everything Everywhere All At Once“ um Sinn- und Familienfindung – fast wie in 1990er-Blockbuster-Klassikern von Steven Spielberg. So gesehen ist diese filmische Wundertüte, ungeachtet aller inszenatorischen Purzelbäume, erstaunlich konservativ: Letztlich gibt es nur ein Universum, das wirklich zählt. Aber es bleibt eine Ahnung unendlicher Alternativen.

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