Mein Dienstag

Zeitreise mit Radovan Karadžić

Der Dokumentarfilm „Serbian Epics“ des Oscarpreisträgers Pawel Pawlikowski ist 30 Jahre alt - und in der Darstellung der bösen Banalität der bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher so aktuell wie damals.

Es ist heuer 30 Jahre her, dass die BBC den Dokumentarfilm „Serbian Epics“ erstmals ausgestrahlt hat. Der britisch-polnische Regisseur Paweł Pawlikowski, später für seinen Spielfilm „Ida“ mit dem Oscar prämiert, begab sich darin an jene nationalistisch überhöhten Orte im damals gerade zerfallenden Jugoslawien, deren angebliche Bedrohung dem Volk der Serben keine andere Chance ließ, als das Land in den Abgrund zu reißen. Es ist ein erstaunlicher Film, Sie können ihn gratis im Internet anschauen. Erstaunlich ist er vor allem, weil Pawlikowski fast unbegrenzten Zugang zur Clique um den bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić bekam. Heute weiß die ganze Welt, dass er und die anderen damaligen Mitglieder seiner Republika Srpska rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher und Völkermörder sind. Damals, im Sommer 1992, war das noch nicht so eindeutig. Wer interessierte sich schon für die innerjugoslawischen Verfallserscheinungen?

Wer jedoch „Serbian Epics“ sah, den konnte nicht wirklich überraschen, was drei Jahre später in Srebrenica und an unzähligen anderen Orten passierte. Wenn beispielsweise Karadžić während eines Kriegsrates mit dickem Filzstift auf einer Karte Bosnien-Herzegowinas herumschmiert und jene Städte und Täler markiert, die er in Verhandlungen unbedingt für sich beanspruche, bei den Tälern entlang des Flusses Sava meint, über die könne man verhandeln, worauf ihm sein Militärchef Ratko Mladić scharf ins Wort fällt: „Über die Sava wird nicht verhandelt.“ In dieser Szene wirkt Karadžić, der dann beschwichtigend meint, „im politischen Sinne“ sei das denkbar, neben dem Schlächter Mladić beinahe wie ein Pragmatiker. Der Film ist eine Perlenkette zeitgeschichtlicher Miniaturen: Karadžić am Feldtelefon in einer zerschossenen Seilbahngondel auf einem Hügel über Sarajewo, Relikt der Olympischen Spiele nur acht Jahre zuvor; beim Mantelkauf in Genf; und beim Besuch seiner Mutter, die auf die rhetorische Frage, welche Mutter ihren Sohn ins Land schicken würde, um für einen moslemischen Staat auf dem Balkan zu sterben, antwortet: „Niemand fragt die Mütter.“

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

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