Nazi-Verbrechen: Letztes Urteil 1975

Heinrich Gross wurde 1999 wegen neunfachen Mordes an Kindern angeklagt. Urteil gab es keins.
Heinrich Gross wurde 1999 wegen neunfachen Mordes an Kindern angeklagt. Urteil gab es keins.(c) REUTERS (PROFIL GODANY)
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Eine Forschungsstelle zählte 511 mit Urteil abgeschlossene Prozesse wegen NS-Tötungsdelikten seit 1945.

Wie ist Österreich in den vergangenen Jahrzehnten mit Kriegsverbrechern aus der Zeit des nationalsozialistischen Regimes umgegangen? Wie hat es mit der Wiederaufnahme von Strafverfahren gegen österreichische Täter ausgesehen? Diesen Fragen hat sich eine Arbeitsgruppe zur Ausforschung von NS-Tätern gewidmet. Jene Forschungsstelle, die innerhalb der Arbeitsgruppe federführend am Werk war, stellte am Dienstag im Justizministerium ihre Ergebnisse zur Nachkriegs-Justiz vor: 511 mit Urteil abgeschlossene Prozesse wurden gezählt.

Die weitaus meisten Urteile (94 Prozent) fielen in die Zeit zwischen 1945 und 1955. Damals tagten in Wien, Graz, Linz und Innsbruck Volksgerichte. Als 1956 Geschworenengerichte die Volksgerichte ablösten, wurden noch bis 1975 weitere Urteile gefällt (6 Prozent). Im Hintergrund liefen um die tausend Ermittlungsverfahren. Letztere führten nach 1975 aber zu keinem Urteil mehr.

Einmal kam es noch zu einer Anklage – und zwar gegen den langjährigen Gerichtspsychiater Heinrich Gross. Er wurde 1999 als 84-Jähriger wegen neunfachen Mordes, begangen an Kindern in der medizinischen Anstalt „Am Spiegelgrund“, angeklagt. Die Taten wurden im Rahmen der NS-Euthanasie begangen. Der Prozess im Jahr 2000 konnte nicht abgewickelt werden, da Gross als nicht verhandlungsfähig eingestuft wurde. 2005 starb er 90-jährig.

Eine Analyse der Urteile zwischen 1945 und 1955 ergibt: In den ersten drei Jahren dieses Zeitraums wurden die meisten gerichtlichen Entscheidungen gefällt. 1945 waren es 91, 1946 dann 175 und 1947 fällte 101 Mal ein Gericht ein Urteil.

Zwischen 1956 und 1975 waren es nur mehr einige wenige Fälle, verteilt über die gesamte Zeitspanne. Am häufigsten setzten sich die Richter 1961 das sprichwörtliche „Kappl“ auf, nämlich sechsmal. Es gab aber Jahre (1958, 1971 bis 1974), in denen es kein einziges Verdikt gab.
Die am häufigsten geahndeten nationalsozialistischen Tötungs-Verbrechen waren Denunziation mit Todesfolge (39 Prozent), Tötungen in der Endphase der Nazi-Herrschaft (27) und Tötungen in Haft-Stätten (15).

Justizministerin Alma Zadić (Grüne) erklärte anlässlich der Präsentation des Abschlussberichts, dass der Rückgang der gerichtlichen Aktivitäten nach Abschaffung der Volksgerichte auch deshalb einsetzte, weil es am politischen Willen mangelte, weil personelle Ressourcen fehlten und weil es ein gewisses gesellschaftliches Desinteresse gab. Mittlerweile sei es aber durchaus so, dass sich die Republik dazu bekenne, dass viele Österreicher an Kriegsverbrechen des NS-Regimes beteiligt waren.

Judensterne auf Corona-Demos

Bildungsminister Martin Polaschek, einst Präsident der Forschungsstelle Nachkriegs-Justiz, erinnerte an die Corona-Kundgebungen, speziell an jene Demonstranten, die zuletzt mit Nachbildungen von Judensternen durch die Straßen gezogen sind. Corona-Maßnahmen mit der Judenverfolgung gleichzusetzen zeige freilich, dass es viel Aufklärungsbedarf gebe. Hier sei auch sein Ressort dafür verantwortlich Wissen zu vermitteln.

Indessen meinten die Vertreter der Forschungsstelle, Claudia Kuretsidis-Haider, Winfried Garscha und Siegfried Sanwald, dass es nicht ganz ausgeschlossen sei, dass künftige Ermittlungen noch Ergebnisse bringen. Zuletzt wurden jedenfalls Versuche unternommen.

Ein Beispiel: Die zentrale Stelle der deutschen Landesjustiz-Verwaltungen in Ludwigsburg (diese Stelle führt Vorermittlungen zu NS-Verbrechen) stellte 16 Personen des früheren KZ-Mauthausen-Personals fest, bei denen entweder der Geburtsort oder der letzte Wohnsitz in Österreich lag. In Linz sollte dann gegen den 1923 geborenen, in Kalsdorf bei Graz lebenden Franz R. wegen vier Erschießungen im KZ ermittelt werden. Das war 2018. Noch vor Start der Untersuchung starb R.

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