Leitartikel

Europa soll autark werden, aber zeigen wir der Welt nicht den Stinkefinger

FILE PHOTO: A container ship is pictured next to cranes in Valparaiso port,  Chile
FILE PHOTO: A container ship is pictured next to cranes in Valparaiso port, ChileREUTERS
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Die Krise der Globalisierung löst ähnlich negative Effekte aus wie ihre Hochblüte. Wir wären gut beraten, sie nicht ganz zu Grabe zu tragen.

In Europa wird ein Traum wahr. Nein, das ist nicht zynisch gemeint, sondern ganz ernst. Viele Menschen haben in den vergangenen Jahrzehnten von einer autarken Wirtschaft geträumt. Im Sektor Energie soll das, wird der Plan der EU-Kommission von den Mitgliedstaaten umgesetzt, in großen Schritten vollzogen werden: mit mehr erneuerbarer Energie, mit mehr privaten Fotovoltaikanlagen, aber vor allem mit mehr Einsparungen. Autark ist hier freilich nicht im individuellen Sinn gemeint, sondern im europäischen. Ähnliche Pläne gibt es für den Pharmasektor und für viele Rohstoffe. Die Kommission will die globale Abhängigkeit der EU reduzieren. Wie das Ergebnis der Bürgerberatungen bei der EU-Zukunftskonferenz belegt, ist das auch der Wunsch vieler Europäerinnen und Europäer.

Europa erlebt gerade schmerzhaft, was es bedeutet, wenn die viel gescholtene Globalisierung nicht mehr funktioniert. Es fehlt an Computerchips, Baumaterial, Rohstoffen und wegen des Ukraine-Kriegs auch an Gas. Das treibt die Inflation an, bremst das Wachstum, verunsichert die Menschen. Die Lieferketten, die noch vor wenigen Jahren so gut funktionierten, dass die Industrie auf Lagerhaltung verzichten konnte und sich just in time alle Komponenten zustellen ließ, lösen sich auf. Die Pandemie samt geschlossenen Häfen trug ihres dazu bei. Aber der Trend, glaubt man den Studien der Bertelsmann-Stiftung, ist dadurch nur verstärkt worden. Er hält schon seit vielen Jahren an. In der jährlichen Auswertung von 42 Ländern stellte die Stiftung bereits 2016 einen Rückgang der internationalen Wirtschaftsvernetzung fest.

Die Globalisierung erzeugte einst eine Eigendynamik, die Probleme auslöste: Umweltprobleme, soziale Verwerfungen, Lohndumping. Ihre Krise produziert interessanterweise ähnliches. Plötzlich wird wieder Kohle verheizt, die Menschen verlieren wegen der Inflation täglich Geld, die Armut steigt – und ganz wenige verdienen mehr denn je.

Natürlich tut Europa gut daran, die Abhängigkeit von internationalen Partnern zu reduzieren. Doch seien wir einmal realistisch, im Bereich der Landwirtschaft ist das möglich, bei einigen Rohstoffen – insbesondere, wenn das Recycling verstärkt wird – auch. Aber es ist letztlich wie im privaten Umfeld: Wir können selbst Gemüse anbauen, um zu essen, wir können Holz aus dem eigenen Wald schlägern, um zu heizen. Aber wir können uns keine Modems für das Internet bauen, keine Mobiltelefone basteln, nicht einmal Kühlschränke. Die EU-Staaten werden weiterhin auf Zulieferer etwa aus Asien angewiesen sein.

Vorteile für alle Beteiligten

Der globale Markt, das wird gern vergessen, hat neben den von ihm produzierten Verwerfungen auch zahlreiche positive Effekte verursacht, die es zu bewahren lohnt. Es wurden Nischenproduktionen möglich, die in einem kleinen Markt nicht hätten reüssieren können. Es kam zu einer Arbeitsteilung, die viele neue Arbeitsplätze – und zwar bei allen Beteiligten – schuf.

Es wäre falsch, wegen des negativen Beispiels Russland einen weiteren positiven Effekt zu vergessen: Die Globalisierung hat durch die enge wirtschaftliche Vernetzung aus ehemaligen Kriegsgegnern Partner gemacht. Sie hat sogar neue zwischenstaatliche Konflikte gebremst, weil die Kooperation bereits zu eng war.

Die Abhängigkeit von Russland und einigen windigen arabischen Ländern bei der Energieversorgung zu reduzieren ist für die EU kein Fehler. Ein Fehler wäre es aber, den globalen Markt für zahlreiche Produkte und deren Komponenten zu zerstören. Die Folge wären auch in Europa langfristig höhere Preise, weniger Wohlstand und weniger Arbeitsplätze. Was dieser globale Markt braucht, ist kein Boykott, sondern eine faire Gestaltung, die mit der De-facto-Entmachtung der WTO und ihrer Schiedsgerichte zu Ende ging. Dieses Vakuum könnte auch die EU füllen. Etwa, indem sie sich als großer Importeur leistet, strenge Regeln für soziale Mindeststandards, für klimafreundliche Produktionen vorzugeben. Was nicht mehr geht, ist eine Lehre aus dem aktuellen Konflikt mit Russland: der Tunnelblick auf den Preis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2022)

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