Mein ukrainischer Gast

Sofias Tiger-Turnschuhe stehen noch in meiner Garderobe – vielleicht kommt sie ja wieder.

Sofia liegt regungslos im Bett, bis zum Hals mit einer orangen Samtdecke zugedeckt, an ihren Ohren sind riesige Kopfhörer befestigt. „Erschrick' bitte nicht, wenn du nach Hause kommst“, hat sie mir in einem Whatsapp geschrieben „ich habe am Nachmittag Online-Psychotherapie“. Dass ihre Therapeutin in Moskau sitzt und Russin ist, ist nicht der einzige Treppenwitz, den das Zusammenleben mit meinem ukrainischen Gast bietet.

Sofia habe ich in meiner Zeit als Universitätslektorin und Deutschtrainerin in Charkiw kennengelernt. Damals war sie siebzehn. Vier Jahre später meldete sie sich wieder und fragte, ob sie zu mir kommen dürfe. Ein paar Tage später war sie da, war von Moskau über Minsk nach Warschau gereist, von dort nach Wien. In ihrem bodenlangen, rosaroten Plüschmantel und mit dem riesigen schwarzen Koffer, den sie auf dem Bahnsteig vor sich herschob, sah sie aus wie eine Mischung aus einer ukrainischen Oligarchennichte und einer russischen Matrjoschka. Die Geschichte, die sie mir nach stundenlangem Duschen und unzähligen Spiegeleiern erzählte, kann man glauben oder auch nicht. Ihre Eltern, Unternehmer und Besitzer einer Mantelfabrik in Charkiw, hatten kurz nach ihrem Schulabschluss Pleite gemacht, aus dem Studium in Österreich wurde vorerst nichts. Sofia beschloss, nach Moskau zu gehen, machte dort einen Business-Kurs, borgte sich dreihundert Dollar von einem Freund und eröffnete einen Laden, wo sie die verbliebene Ware der Firma ihrer Eltern verkaufte. Dann verkaufte sie das Geschäft und begann ein Online-Business mit Kursen und Trainingsprodukten für Blogger.

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