Mein Montag

Ab jetzt nehmen wir kein Blatt mehr vor den Mund!

Kein Blatt vor dem Mund.
Kein Blatt vor dem Mund.(c) Clemens Fabry
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Endlich sagen, was ist, nicht mehr feige sein! Aber führen wir da nicht eine Feigenblattdiskussion?

Wer Angst hat, etwas auszusprechen, wird von manchen gern als feige gescholten. Ein Adjektiv, das in seiner Grundbedeutung einst „todgeweiht“ bedeutete und das sich dann entwickelte. Dass man sich nämlich so verhält, als würde man vor dem Tod zurückschrecken, also im Sinne von ängstlich. Mit der Feige als Bezeichnung der tropischen Frucht hat das allerdings nichts zu tun, die hat eine andere Wurzel. Sie kommt aber auch gelegentlich zum Einsatz, wenn man jemanden als feige bezeichnet – im Sinn des Feigenblatts, mit dem man seine Scham (über diesen Begriff müssen wir ein andermal noch genauer sprechen) verhüllt. Warum man da gerade ein Feigenblatt verwendet? Nun, zum einen wurde die Feige gern als Synonym für die weiblichen Geschlechtsteile genutzt. (Es gibt auch die Feige als Geste, eine Faust mit dem zwischen Zeige- und Mittelfinger steckenden Daumen, die einst als beleidigende Spottgebärde diente.) Zum anderen griffen schon Adam und Eva in der Bibel zum Feigenblatt, als sie bemerkten, dass sie nackt waren.

Es ist allerdings nicht überliefert, dass Adam und Eva sich das Blatt vor den Mund hielten. Diese Redewendung im Sinn des Aussprechens einer unangenehmen Wahrheit hat nämlich eine andere Geschichte. Sie kommt aus dem Theater, wo sich Schauspieler unkenntlich machten, indem sie ein Blatt oder mehrere Blätter vor ihr Gesicht hielten. So konnten sie sticheln oder spotten, ohne dass man sie dafür zur Verantwortung ziehen konnte. Nimmt nun jemand kein Blatt vor den Mund, steht das dafür, dass man Dinge direkt und ohne Beschönigung ausspricht – und auch dahintersteht und mögliche Konsequenzen auf sich nimmt.

Ist jemand, der ein Blatt vor den Mund nimmt, deswegen feige? Gute Frage. Darüber sollten wir vielleicht einmal eine Feigenblattdiskussion führen . . .

E-Mails an: erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2022)

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