Leitartikel

Österreichische Flitterwochen mit Erdoğan

Recep Tayyip Erdoğan.
Recep Tayyip Erdoğan.(c) via REUTERS (MURAT CETINMUHURDAR/PPO)
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Zwischen Österreich und der Türkei hat ein Tauwetter eingesetzt. Das hat realpolitische Gründe. Doch schweigen dürfen Nehammer und Co. nicht. Denn der türkische Präsident agiert willkürlicher denn je.

Zwischen der Türkei und Österreich flogen über Jahre hinweg auf höchster Ebene die Fetzen. Auf dem diplomatischen Parkett ging es zeitweise zu wie einst bei den Catchern auf dem Wiener Heumarkt. Der wiederkehrende Schlagabtausch glich einem eingespielten Schaukampf, den beide Seiten je nach Bedarf für ihr jeweiliges Heimpublikum inszenierten. Sich mit dem türkischen Präsidenten auf offener Bühne anzulegen brachte billige Bonuspunkte. Der Showeffekt war garantiert: Recep Tayyip Erdoğan schlug zuverlässig zurück. Auf der Strecke blieben die österreichisch-türkischen Beziehungen.

Anlässe zu berechtigter Kritik bot und bietet Erdoğan im Übermaß: Der türkische Staatschef baute systematisch den Rechtsstaat ab und ein autoritäres System auf. Nach dem gescheiterten Militärputsch im Sommer 2016 ließ er letzte Hemmungen fallen. Daran änderte sich nichts. Dennoch ist auf einmal Tauwetter angesagt zwischen der Türkei und Österreich. Erst gab Ankara grünes Licht für die Weiterführung der österreichischen Ausgrabungen in Ephesos. Dann beendete es nach fast sechs Jahren seine Blockade gegen Österreich in der Nato-Partnerschaft für Frieden. Erdoğan hatte den Bann verhängt, weil sich die Bundesregierung nach der Repressionswelle im Gefolge des Putschversuchs erdreistet hatte, ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen zu fordern.

Kontaktreigen. Alles scheint nun vergeben und vergessen. Es ist ein Kontaktreigen im Gang. Bundeskanzler Karl Nehammer hat sich vor seinem Moskau-Besuch und vor seinem Anruf bei Kreml-Chef Putin mit Erdoğan abgesprochen. Für Ende Juni hat er ein Treffen mit dem türkischen Präsidenten am Rande des Nato-Gipfels in Madrid vereinbart. Am 10. Juni will Erdoğan einen anderen hochrangigen Besucher aus Wien empfangen: Bürgermeister Michael Ludwig. Und am 27. Juni trudelt Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka in der Türkei ein.

Es gibt gute Gründe für die Wiederannäherung: Der Ukraine-Krieg, in dem sich Erdogan geschickt als Vermittler positioniert, verleiht der Türkei neues geopolitisches Gewicht. Wenn sich Österreich von russischer Energie abkoppeln will, ist es womöglich auf die Türkei als Transitland für aserbaidschanisches Gas angewiesen. Außerdem könnte das Land am Bosporus bald eine Schlüsselrolle als Schleusenwart bei der nächsten Migrationswelle aus Nahost spielen, die angesichts der Lebensmittelkrise zu befürchten ist.

Doch Österreichs Politiker sollten nicht von einem Extrem ins andere verfallen und nach dem Ende der Megafon-Diplomatie die Kritik nicht auf stumm schalten. Denn Erdoğan agiert willkürlicher denn je. Er markiert vor der Präsidentenwahl 2023 den starken Mann, um von seinem wirtschaftspolitischen Versagen (Inflationsrate über 70 Prozent!) abzulenken. Deshalb droht er den Kurden in Syrien mit Krieg. Deshalb erpresst er Schweden und Finnland vor der Nato-Norderweiterung. Deshalb wurde der Philantrop Osman Kavala in einer Justizfarce zu lebenslanger Haft verurteilt. Deshalb muss sich Istanbuls oppositioneller Bürgermeister im September vor Gericht verantworten. Wer dazu schweigt, macht sich mitschuldig.

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