Die Ich-Pleite

Eine frustrierende Angelegenheit

Carolina Frank
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Nachdem man stundenlang Tonnen von Sommergarderobe im Schrank verstaut habe, habe man trotzdem nichts zum Anziehen.

Neulich treffe ich meine Freundin Eva auf einen Sommerspritzer. Bevor ich richtig sitze, hat sie schon das halbe Glas ausgetrunken. Sie komme gerade vom Garderobe-Umräumen, sagt sie. Jedes Jahr schleppe man Berge von Winterzeug von einem Schrank zum anderen. Eine frustrierende Angelegenheit!

Warum, will ich wissen. Na ja, der eine Teil gefalle einem nicht mehr, der andere Teil passe einem nicht mehr. Und die Lieblingssachen seien verschwunden. Eva nimmt einen weiteren großen Schluck. Zum Beispiel das hellblaue Strandkleid. Das habe man bestimmt in diesem Hotel auf Korfu liegen lassen. Wahrscheinlich trage es jetzt eine, die nicht fünf Kilo zugenommen habe. Kurzum, nachdem man stundenlang Tonnen von Sommergarderobe im Schrank verstaut habe, habe man trotzdem nichts zum Anziehen. Sie leert das Glas und deutet dem Kellner, ein zweites zu bringen. Dabei schaut sie ihn so wütend an, als wäre er für das Sommergarderobendesaster verantwortlich.

Aus lauter Verzweiflung, sagt sie, habe sie sich sogar „seinen“ Kasten vorgenommen. Das könne man sich überhaupt nicht vorstellen, wie der ausschaue! Das reinste Pharaonengrab. Je tiefer man hineinwühle, desto mehr „Schätze“ finde man. Sie sei sich sicher, dass es dort Kleidungsstücke gebe, die noch aus seiner Schulzeit stammten. Und ihm passten sie wahrscheinlich auch noch. Sogar Originalverpacktes habe sie gesehen. Wie bei meiner Oma, sage ich, da hätten wir stoßweise Nachthemden gefunden, als sie gestorben sei. Ein Nachthemd habe sie auch gefunden, sagt Eva düster und nimmt dem Kellner den neuen Sommerspritzer ab, aber nach „Oma“ habe es ganz und gar nicht ausge­sehen. Jetzt überlege ich noch, ob ich meinen Schrank überhaupt um­­räumen soll.

("Die Presse Schaufenster" vom 03.06..2022)

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