Randerscheinung

Viel zu kalt für Ende Mai

Carolina Frank
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Ein heißestes Jahr seit Aufzeichnungen nach dem anderen, aber ich klage über den kalten Mai.

Ich stehe also im See herum wie Schilf. Bis zur Hüfte im Wasser, ­da­rüber im Freien, seit Minuten un­­beweglich. Der Jüngste umkreist mich mit dem Hund auf dem Stand-up-Paddle-Board und ruft: „Komm doch rein, Papa!“ Ich finde es für Ende Mai wahnsinnig kalt, habe auch außer einem Schwan, ein paar Enten und einem Blässhuhn noch niemanden im Wasser gesehen außer mir. Je länger ich so herumstehe, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ich noch ­hineingehe.

Meine Schwester sagt ja, das Schwierigste sind die Ellbogen, für viele ist es der Bauch, ich bin erst so richtig im Wasser, wenn ich den Kopf untergetaucht habe. Hier im See habe ich ein Ritual, wenn das Wasser kalt ist. Statt „eins, zwei, drei“ zu zählen, schaue ich zum Haus eines ehemaligen Skiflug-Weltmeisters, das rechts auf einer Wiese steht, dann zur Felswand daneben und am Ende auf den markanten Rücken jenes Berges, der ­diesen See vom nächsten trennt. Heute hilft das aber nichts. Eigentlich ist es ja sehr basal und ziemlich entlastend, sich übers Wetter zu ereifern, viel zu kalt für Ende Mai, Vegetation höchstens auf Stand von Anfang April, alles noch total gatschig, so Sachen eben, aber durch den Klimawandel wird das gleich politisch. Ein heißestes Jahr seit Aufzeichnungen nach dem anderen, aber ich klage über den kalten Mai.

Der Jüngste ist inzwischen so nah an mich herangepaddelt, dass die Bugwellen auf meinen Bauch schwappen und mich das Paddel unangenehm an­spritzt. „Komm jetzt endlich, Papa!“, sagt er und ich sehe ihn schon samt Hund direkt neben mir ins Wasser platschen. Ob das Schilf untenherum auch so friert wie ich? Also schnell drei Mal geschaut und hinein. Auf Nachfrage werde ich später lässig sagen: „Also, wenn man erst einmal drinnen ist, kommt es einem richtig warm vor.“ 

("Die Presse Schaufenster" vom 03.06.2022)

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