Quergeschrieben

Kein Grund zum Feiern: 100 Tage Krieg. Ein Dilemma

Unsere alte Sicherheit war trügerisch. Ist es wehleidig, sich als Nichtbetroffener mit den Gefühlswelten zu beschäftigen, die der russische Angriffskrieg verändert hat?

Es gibt seltsame Anlässe. 100 Tage Krieg zum Beispiel. Kaum ein Medium, das sich vergangene Woche nicht der runden Zahl hingab. Auch „Die Presse“ formulierte zu diesem Anlass „Acht Thesen zu den Folgen der russischen Invasion“ in der Ukraine. Zum Feiern war niemandem zumute – und die Zahlenspielereien wirkten etwas befremdlich. Doch die Welt ist in den paar Wochen zweifellos eine andere geworden, seitdem ein lupenreiner Diktator in unserer Nachbarschaft einen mehrheitlich proeuropäischen, mittlerweile westlich orientierten demokratischen Staat überfallen hat, Zigtausende Kinder und Erwachsene verschleppt, plündert, mordet und brandschatzt. Und die Weltöffentlichkeit – von Breaking zu Fake News und vom schnellen Faktencheck zur eiligen Live-Analyse gehetzt – braucht dringend Anlässe, innezuhalten, zurückzublicken, die Lage zu bewerten. Deshalb habe auch ich den 100. Tag genutzt – und versucht nachzuvollziehen, wie der Krieg mich verändert hat. Und das hat er, auch wenn ich das Glück habe, nicht persönlich betroffen zu sein, und wenn es deshalb unangebracht oder vielleicht sogar wehleidig klingen mag, von Gefühlen zu sprechen.

Doch genau darum geht es: Der Krieg hat meine Gefühlswelt massiv verändert; nicht nur, weil er zeigt, dass die alte Sicherheit eine trügerische war. Es ist das erste Mal, dass ich mich in einem Krieg klar parteiisch fühle. Das fühlt sich auch nach langem Nachdenken noch richtig an – aber doch sehr ungewohnt, wenn einem seit der Volksschule vermittelt wird, dass die österreichische Neutralität etwas immerwährend Heiliges ist, gleichsam gottgegeben. Die Verweigerung, ernsthaft darüber zu diskutieren, weil jetzt der falsche Zeitpunkt sei, ist auf eine pathologische Art österreichisch. Wann denn bitte schön sonst?Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

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Zur Tatenlosigkeit verdammt, bleibt einem wenig mehr, als regelmäßig zu spenden (Care!) und beim Song Contest für die Ukraine abzustimmen. Vor allem anfangs war die Ohnmacht schrecklich. Ich erinnere mich an die ersten Tage, als gehäuft Autos aus dem Kriegsgebiet in Österreich auftauchten. Jedem Lenker und jeder Lenkerin mit ukrainischem Kennzeichen habe ich den Daumen nach oben gezeigt. Alle haben sich mit Lichthupe oder einem anderen Zeichen bedankt. Nie habe ich mich auf der Autobahn europäischer gefühlt. Und heute?

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