Festrede

45 Jahre: Die Volksanwaltschaft als Pulsmesser der Nation

Der Sitz der Volksanwaltschaft in Wien ist in der Singerstraße 17.
Der Sitz der Volksanwaltschaft in Wien ist in der Singerstraße 17. Die Presse
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Seit 45 Jahren gibt die Volksanwaltschaft den Bürgern das Gefühl, gehört zu werden und sich gegen behördliche Willkür zur Wehr setzen zu können. Unabhängig von Bildung, finanziellen Mitteln oder familiärem Hintergrund.

Anmerkung: Die ist die Festrede, die Judith Kohlenberger am 8. Juni 2022 im Parlament zum 45. Jubiläum der Volksanwaltschaft gehalten hat.

Im Jahr 1951, also vor mehr als 70 Jahren, schrieb die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt in ihrem US-amerikanischen Exil vom „Recht, Rechte zu haben“ – ein mittlerweile so berühmtes wie missbrauchtes Zitat. Es trifft im Kern das, was Arendt später auch als „das eine Menschenrecht“ bezeichnen sollte, nämlich die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, einem Nationalstaat, einem Staatsvolk, auf einer abstrakten Ebene einer gemeinsamen Erzählung und Geschichte. Als Flüchtling, als Vertriebene aus Nazi-Deutschland blieb ihr und vielen anderen genau das verwehrt, und auch heute, nach zahlreichen Reformen und damit Großteils Verbesserungen des internationalen Flüchtlingsschutzes, ist die Frage des Dazugehörens noch immer eine zentrale.

Judith Kohlenberger.
Judith Kohlenberger. Elodie Grethen

Menschlichkeit jedes Menschen bewahren

Denn Arendts bekanntes Zitat – und das ist weniger bekannt – geht noch weiter, und zwar noch wesentlich gewichtiger: Nicht nur schrieb sie vom „Recht, Rechte zu haben“, sondern auch vom „Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören“, und dieses Recht müsse eben wiederum von der Menschheit selbst garantiert werden. Nachdem vorherige Legitimations- und Erklärungssysteme wie „die Natur“, „die Religion“ oder „die Geschichte“, die bis zu den emanzipatorischen Kämpfen des 19. und des 20. Jahrhunderts vorgaben, wer zur Kategorie „Mensch“ gehörte, und wer eben nicht (Frauen, Sklaven, Besitzlose), nach und nach ihre Wirkmacht verloren hatten, könne die grundlegende Humanität und Menschlichkeit jedes und jeder Einzelnen nur von den Menschen selbst zugestanden werden. Das bedeute unendlich mehr Freiheit, aber auch unendlich mehr Verantwortung als je zuvor in der Geschichte des Menschen. Denn die Menschlichkeit jedes Menschen immer und bedingungslos zu bewahren und ins Zentrum jeglichen politischen wie individuellen Handelns zu stellen, immer das „Antlitz des Anderen“, wie es der polnische Philosoph Zygmunt Bauman nennt, vor sich zu sehen und als Maxime zu nehmen, an der man seine Entscheidungen ausrichtet, ist eine Aufgabe, an der sich die Menschheit redlich abarbeitet und dennoch immer wieder grandios scheitert.

Die Autorin

Judith Kohlenberger (* 1986) ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien. Im August erscheint ihr neues Buch „Das Fluchtparadox“ (Kremayr & Scheriau).

Twitter: @J_Kohlenberger.

Es braucht eigentlich keine Pandemie und keinen Krieg in Europa, um zu dieser schmerzhaften Erkenntnis zu gelangen; ein Blick an die EU-Außengrenzen und die dort betriebene systematische und anhaltende Dehumanisierung Ankommender, etwa der Kinder, die im Dreck und Morast auf Lesbos hausen, der schwangeren Frauen, die vor Verzweiflung ins Wasser gehen, der Asylsuchenden, die monatelang in gefängnisähnlichen Komplexen „verwahrt“ werden und deren einziges Verbrechen doch darin besteht, Sicherheit und Freiheit zu suchen –  ein Blick darauf würde schon reichen.

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Dennoch, gerade die Umwälzungen und Verwerfungen der vergangenen Monate, die oft bemühte „Zeitenwende“, führt uns Westeuropäerinnen und -europäer umso deutlicher vor Augen, dass wir Arendts Aufforderung, uns selbst „das Recht, zur Menschheit zu gehören“ garantieren, nicht gerecht werden. Wieder ist Krieg in Europa, wieder geschehen Kriegsverbrechen ungeahnten Ausmaßes auf diesem schon so blutgetränkten Kontinent, wieder verlieren Millionen ihre Heimat und ihre Liebsten.

Autoritarismus beginnt, wo die Einsamkeit überhandnimmt

Aber Arendt wäre nicht die große Arendt, wenn sie nicht auch ein mögliches Gegenmittel liefern würde. Nicht von ungefähr findet sich der Leitspruch vom „Recht, Rechte zu haben“ in ihrem Fundamentalwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, im englischen Original „The Origins of Totalitarianism". Arendt spürt darin scharfsinnig nach, wie Völker und Gesellschaften anfällig für totalitäre Tendenzen werden, wie Autoritarismus entsteht. Und zwar dann, wenn die Einsamkeit des Einzelnen überhandnimmt. Wenn er oder sie sich eben nicht mehr zugehörig fühlt, nicht mehr als Teil einer Gemeinschaft, ja gar als Teil einer gemeinsamen menschlichen Erfahrung. Wenn Menschen isoliert sind, ausgegrenzt, ausgeschlossen und abgelehnt, dann öffnet das Tür und Tor für autokratische Tendenzen. Das Gefühl der Zugehörigkeit holen sich die Ausgegrenzten dann bei Radikalisierern, Blendern, bei Autokraten, im falschen Versprechen von Kameradschaft, im kuhwarmen Gefühl eines engen Corps-Geists. Eine freie Demokratie, so Arendt, basiere darauf, dass alle in der offenen Gesellschaft zugehörig sein können und alle teilhaben können, allen ihre Menschlichkeit zugestanden wird.

„Die Erfahrung, nicht zur Welt zu gehören“, so schreibt sie, „ist unter den radikalsten und verzweifeltsten Erfahrungen des Menschen.“ Missverstehen Sie das nicht – es geht Arendt nicht um das bloße Alleinsein, also nicht unter Menschen sein – man könnte argumentieren, dass dies in der vernetzten, digitalen Welt, in der wir heute leben, und in der wir alle unsere Freund*innen (eher unser friends und follower) immer am Smartphone bei uns tragen, gar nicht mehr möglich ist. Dass wir genau jetzt, nicht erst seit Corona, eine Pandemie der Einsamkeit erleben, ist aber nicht der räumlichen, sondern vor allem der emotionalen Distanz zwischen uns geschuldet – oder, wie Arendt sagen würde, weil wir nicht mehr „dazugehören“, nicht mehr zueinander gehören. Weil viele von uns von den anderen abgeschnitten sind, ob von Menschen, Ideen oder Institutionen.

Zugehörigkeit schaffen können auch Institutionen

Einsamkeit in diesem zutiefst politischen Sinne ist deshalb nicht „Einzeln“ oder „Allein“-Sein, sondern mitunter von anderen umgeben, mitten in der Gesellschaft, am Ort des Geschehens zu sein, und doch nicht dazuzugehören, keinen Kontakt herstellen zu können oder gar der Feindseligkeit anderer (und ja, auch der Feindseligkeit von Behörden) ausgesetzt zu sein. Tiefe, zerstörerische Einsamkeit ist das Gegenteil von Zugehörigkeit.

Zugehörigkeit aber, durch Kontakt und durch die Abwesenheit von Feindlichkeit, bezieht sich in Arendts Sinn auch auf bürgerliche Institutionen, Behörden und staatliche Strukturen, die das Dazugehören eben fördern oder zerstören können. Und noch weiter gedacht, in einem wahrlich metaphysischen Sinne, geht es um eine gemeinsame Erzählung, die Erzählung eines Landes, eines Volkes, einer Zeit, in der man einen Platz hat, der man angehört und die sinnstiftend für einen selbst ist.

Und das bringt mich zur zentralen Rolle, die die Volksanwaltschaft in unserer Republik erfüllt. Die Volksanwaltschaft stellt genau diese Zugehörigkeit sicher, dieses Gefühl, gehört zu werden und das „Recht, Rechte zu haben“. Nicht isoliert und ausgegrenzt zu sein, sondern der eigenen, unveräußerlichen Menschlichkeit versichert zu werden. Gerade im Umgang mit Verwaltung und Bürokratie, wie Arendt selbst mit Blick auf die akribisch geplanten und effizient exekutierten Verbrechen des Nationalsozialismus beschrieb, gilt es, die Menschlichkeit jedes und jeder Einzelnen ins Zentrum zu stellen. Sie ist es, die uns vor Willkür, vor Missständen, vor bewusster Untätigkeit oder vermeintlicher Unfähigkeit rettet.

Schutz vor behördlicher Wilkür

Genau das tut die Volksanwaltschaft seit 45 Jahren. Jene vor behördlicher Willkür zu schützen und ihren Zugang zum Recht sicherzustellen, die nicht über die entsprechenden finanziellen Mittel, die entsprechende Bildung und rechtliche Alphabetisierung, den sozioökonomischen Hintergrund, das richtige Elternhaus oder die richtige Herkunft verfügen. Unabhängig von den Lebensrealitäten eines Menschen, die so bestimmend sind für die Chancen und Möglichkeiten, die sich uns tagtäglich bieten, steht die Volksanwaltschaft allen zur Seite, die von österreichischen Behörden nicht gerecht behandelt wurden, vielleicht sogar misshandelt wurden. Denen, im Sinne Arendts, ihre Menschlichkeit abgesprochen wurde. Denn genau das hatte auch Arendt im Sinn: Nicht das abstrakte Zugeständnis von Recht, allen voran den grundlegenden Menschenrechten, sondern auch die Garantie, dieses einzufordern und zugestanden zu bekommen. Für diese Garantie steht die Volksanwaltschaft seit nunmehr 45 Jahren.

Im Rahmen meiner eigenen Forschung im Bereich Flucht und Migration habe ich es immer wieder mit eben jenen zu tun, deren Menschlichkeit und Humanität prekärer scheint als die unsere, die wir hier in festlicher Kleidung und feierlicher Stimmung zusammengekommen sind. Die Marginalisierten unserer Gesellschaft, das sind im globalisierten, spätmodernen 21. Jahrhundert Geflüchtete und Schutzsuchende, Migrantinnen und Migranten, die in unserem Land wortwörtlich keine Stimme habe – nämlich im politischen Sinne, weil sie aufgrund der strengen Einbürgerungsgesetze  und der damit verbundenen finanziellen Hürden oft ihr Leben lang nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und damit in Arendts Sinne die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erlangen, womit auch das Mitbestimmungsrecht in dieser Gemeinschaft einhergeht. Ein Geflüchteter aus Syrien, der dort ein Universitätsstudium absolviert hatte und nun als Fahrer bei einem Subunternehmen für den Großkonzern Amazon Pakete ausliefert, wo durch die Pandemie der Arbeitsdruck so gestiegen ist, dass er und seine Kollegen untertags keine Zeit mehr haben auf die Toilette zu gehen, sondern in Trinkflaschen urinieren müssen – dieser syrische Paketzusteller antwortete auf meine Frage, warum er denn nicht seine Arbeitnehmerrechte, die ja allen in Österreich Arbeitenden zustehen und auf die wir zurecht stolz sind, einfordere: „Weil es nicht mein Land ist. Weil ich nicht hierher gehöre.“
Abstrakt mag er wohl Arbeiternehmerrechte haben, de facto weiß er aber, dass ihm das Recht fehlt, diese einzuklagen, eben er weil nicht zugehörig ist und es vielleicht nie sein wird. Der Zugang zum Recht beginnt frei nach Arendt mit dem Zugang zu einer Gemeinschaft, zu etwas Gemeinsamen. Das abstrakte Recht ist wenig wert ohne die konkrete Möglichkeit, dieses einzufordern und zugestanden zu bekommen.
Rein geografisch beginnt dieser Zugang zum Recht schon außerhalb der Grenzen des Landes. Etwa, wenn Schutzsuchende Österreichs Grenzen passieren wollen, dort aber von der Grenzpolizei völkerrechtswidrig zurückgestoßen werden, mitunter mit Einsatz von Gewalt. Solche „Pushbacks“, wie das steirische Landesverwaltungsgericht zuletzt feststellte, fänden „methodisch“ Anwendung und brachten Österreich zuletzt die Kritik des Europarats ein.

Kanarienvogel in der Kohlemine

Diese Marginalisierung und Ausgrenzung im Räumlichen geht Hand in Hand mit dem Sozialen. Außerhalb der Grenzen mögen es Flüchtlinge und Vertriebene wie Arendt selbst sein, deren Zugang zum Recht erschwert bis verunmöglicht wird, innerhalb der Grenzen sind es Menschen mit Behinderung, Armutsbetroffene, Wohnungslose, die nicht dazugehören und damit auch nicht immer zu ihrem Recht kommen. Und man muss nicht weit in die Geschichte zurückgehen, um zu erkennen: Von jeher ist es die Beschneidung der Rechte genau dieser Marginalisierten und Ausgegrenzten, dieser „nicht-so-ganz-Zugehörigen“ in einer Gesellschaft, die das Einfallstor bilden für illegitime Tendenzen und Verletzungen der Grund- und Freiheitsrechte aller. In einer Demokratie erfüllen sie die Funktion des sprichwörtlichen „canary in the coal mine“, also des Kanarienvogels in der Kohlemine: Ersticken sie, wird für uns alle bald die Luft knapp.

Für die Volksanwaltschaft Erfolg und einen langen Atem

Die Volksanwaltschaft ist damit auch ein Gradmesser für den Stand von Rechtsstaatlichkeit und Fairness, Freiheit und Gerechtigkeit in unserem Land. Sie fördert nicht nur die Teilhabe am Recht, sondern in einem übertragenen, fast noch gewichtigeren Sinne, die Teilhabe an der Gesellschaft als Gesamtes, die Zugehörigkeit zum Staatswesen und zu einer gemeinsamen Erzählung. Im Sinne Arendts ist sie damit auch ein Bollwerk gegen die Form der Einsamkeit und Rechtlosigkeit, die Gesellschaften anfällig macht für totalitäre und radikale Tendenzen. Rechtsstaatlichkeit geht nur in der Gemeinschaft und mit der grundlegenden Bewahrung der Menschlichkeit aller, und nicht nur mancher. Und damit bietet die Volksanwaltschaft, die auch das verfassungsgesetzliche Mandat zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte hat, eine Gegenerzählung zu Vereinzelung, Polarisierung und Spaltung in unserer Welt. Eine Gegenerzählung, die auf Zugehörigkeit und Universalität der Grundrechte und des Rechtzugangs aufbaut, weil man sie nicht für die einen abstellen kann, während sie für die anderen weiter gelten. Deshalb, so formuliert es die amerikanische Schriftstellerin und Ikone der Bürgerrechtsbewegung, Maya Angelou, etwa 50 Jahre nach Arendt, aber ganz in ihrem Sinne, seien Grundrechte wie Luft: Entweder alle haben sie – oder niemand.
Der Volksanwaltschaft als gleichzeitigem Pulsmesser und Atemgerät der Nation gratuliere ich zu ihrem 45-jährigen Bestehen und wünsche ihr, und damit uns allen, für die nächsten 45 Jahre weiterhin viel Erfolg, viel Kraft und viel Mut. Und einen langen Atem.

Die Volksanwaltschaftwurde 1977 als parlamentarischer Ombudsrat zur Kontrolle der öffentlichen Verwaltung gegründet und besteht aus drei Mitgliedern, die auf sechs Jahre bestellt werden. Derzeit sind es Bernhard Achitz (SPÖ), Werner Amon (ÖVP) und Walter Rosenkranz (FPÖ). Die aktuelleamtszeit geht bis 2025. 

Die kostenlose Servicenummer lautet 0800 223 223
Das Beschwerdeformular gibt es online hier.

E-Mails: debatte@diepresse.com

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