Ukraines Vizepremierin: „Wollen nicht wieder Geisel werden“

Daily life as Russia's attack on Ukraine continues, in Kyiv
Daily life as Russia's attack on Ukraine continues, in KyivREUTERS
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Die Ukraine braucht keine Versprechungen, sondern den rechtlich klaren Kandidatenstatus, sagt die für die EU-Fragen zuständige Vizepremierministerin Stefanischyna zur „Presse“.

Die nächsten zwei Wochen sind entscheidend für das Schicksal der Ukraine und ihrer Hoffnungen darauf, eines Tages der EU beitreten zu können. Am kommenden Freitag wird die Europäische Kommission ihre Einschätzung veröffentlichen, ob die Ukraine die Bedingungen erfüllt, um EU-Beitrittskandidat zu werden. Und eine Woche darauf werden die 27 Staats- und Regierungschefs sich zu einigen haben, ob sie dieser Empfehlung folgen und grünes Licht für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Kiew geben.

In einem Gespräch mit der „Presse“ und einer Handvoll anderer internationaler Zeitungen brachte die für diese Verhandlungen zuständige Vizeregierungschefin, Olha Stefanischyna, ihre große Sorge zum Ausdruck, dass einige Mitgliedstaaten ihr Land in einer Art Warteraum außerhalb der EU parken wollen. „Für die Ukraine wäre jede Vorbedingung ein klares Nein“, sagte Stefanischyna. „Bevor so etwas passiert, wäre es besser, wenn sie gar keine Entscheidung treffen.“ Besonders beunruhigt sei sie über den Widerstand der Niederlande und Portugals gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. „Portugal kam für uns sehr überraschend. Dort gibt es eine der größten ukrainischen Diasporas. Wir verstehen das nicht.“ Hingegen habe der österreichische Bundeskanzler, Karl Nehammer, klargemacht, „dass seine Regierung dem Kandidatenstatus nicht widersprechen werde“. Den Acht-Punkte-Plan von Außenminister Alexander Schallenberg und Europaministerin Karoline Edtstadler kommentierte Stefanischyna diplomatisch: „Der Anfang jeder Diskussion muss der rechtliche Status als Beitrittskandidat für die Ukraine sein. Ob es der Vorschlag ist, den Österreich gemacht hat, oder jener von Emmanuel Macron, oder was auch immer die kommende tschechische Ratspräsidentschaft vor hat: Wir sind offen, über alles zu reden. Aber das darf nicht dazu führen, dass es die Frage des Kandidatenstatus untergräbt.“

Junge Kriegswitwe

Die 36-jährige frühere Rechtsanwältin und Justizbeamtin hat am eigenen Leib erfahren, was im russischen Vernichtungskrieg gegen ihr Land auf dem Spiel steht. Im März wurde ihr Mann, mit dem sie zwei Kinder hat, von einer russischen Granate getötet. „Wir haben schon viele Versprechungen gehört – vor allem von Russland, mit dem Budapest-Memorandum“, sagt sie. Damals, 1994, gab die Ukraine gegen eine Zusage der territorialen Integrität des Landes durch Moskau seine Nuklearwaffen auf. Auch der Nato-Gipfel 2008 ließ die Ukrainer mit leeren Händen zurück. „Das waren alles Versprechen von Politikern. Denen folgten nie echte rechtliche Lösungen. Für uns ist es wichtig, nicht schon wieder zur Geisel einer politischen Lösung zu werden.“

Russian invasion of Ukraine
Russian invasion of Ukraine(c) PA Images via Getty Images (Damien Storan - PA Images)

Stefanischyna unterstrich, dass ihre Regierung sich keinen Illusionen über eine „Überholspur“ zur Vollmitgliedschaft hingebe: „Die Entscheidung über den Kandidatenstatus ist nur der Anfang der Reise. Wir wissen, dass das Zeit brauchen wird. Und sobald diese Entscheidung getroffen ist, werden wir uns darauf konzentrieren müssen, unser Land wieder aufzubauen. Wir werden überleben, und wir haben den Willen, das mit der EU zu tun.“

Nicht in einen Korb stecken

Mit Unruhe beobachtet sie die Tendenz vieler EU-Politiker, die Beitrittsbestrebungen der Ukraine im Paket mit jenen Moldaus und Georgiens zu behandeln: „Das ist meine größte Sorge. Uns in denselben Korb zu stecken vergrößert die Unklarheit und gibt den Skeptikern Auftrieb.“ Beide Länder lägen politisch und institutionell weit hinter der Ukraine zurück.

Hinsichtlich der EU-Sanktionspolitik „verstehen wir, dass ein Gasembargo nicht im nächsten Paket enthalten sein wird“. Stattdessen dringt sie auf den kompletten Ausschluss aller russischen Banken vom Finanzdatensystem Swift, auf ein Verbot, russischen Firmen EDV-Dienste wie Cloud-Computing zum Speichern ihrer Daten zu ermöglichen, und vor allem auf die schnelle Umsetzung des Vorschlages der Kommission, sanktionierte Vermögenswerte einziehen zu können: „Damit könnten nicht nur unsere, sondern auch Ihre Kriegsschäden in der EU beglichen werden. Das würde einen echten Unterschied bewirken.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2022)

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