Mode ist mehr als schöne Kleider: Ich befinde mich auf den Spuren italienischer Modemacherinnen, die mit ihrer Arbeit Frauen zu mehr Unabhängigkeit verhelfen. Überbordende Farbenpracht bringt nicht nur die Landschaft hier hervor.
Blau, ein tiefes sattes Blau. Wo die Felsen, auf denen ich stehe, aufhören, fängt ein Strich an, der zwei Sorten der Farbe voneinander trennt. Würde ich die Hosenbeine aufkrempeln und hineinsteigen, könnte ich mit einem Fuß in dem einen, mit dem anderen in dem anderen Blau stehen. Genau hier begegnen sich zwei Meere, das adriatische und das ionische. Den Fischen wäre das Ionische Meer lieber, erzählte ein Fischer neben mir am Tresen in der Bar, es sei salziger als die Adria. Alle Orte des Salento, die an der ionischen Küste lägen, hätten Glück; sie hätten mehr Fisch.
Ich befinde mich am Absatz des italienischen Stiefels, an der Stelle, die beim Gehen am meisten verschlissen wird. Die Punta Melisa am Rand der Bucht von Santa Maria di Leuca gilt vielen als Treffpunkt zweier Meere. Andere setzen diesen Punkt weiter südlich an, wieder andere sagen, er sei einige Kilometer weiter nördlich, nahe Otranto.
Hergekommen bin ich auf den Spuren von Maria Grazia Chiuri, ihretwegen stehe ich hier am Meeresrand. Chiuri ist seit sechs Jahren Kreativdirektorin bei Dior, als erste Frau in der 69-jährigen Geschichte des Hauses, das Christian Dior direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gründete. Er führte den New Look ein, elegante feminine Entwürfe mit großzügigen weit schwingenden Röcken, schmalen Taillen. Mit seiner ersten Kollektion 1947 erfand er etwas, das er als Blütenkelch-Linie bezeichnete (Ligne Corolle), er entschied sich klar für einen verschwenderischen Materialgebrauch, mit der praktischen, aus Mangel geborenen Bekleidung der Kriegsjahre sollte Schluss sein. Obwohl ihm diese Verschwendung zuerst vorgeworfen wurde, entwickelte sich das Label rasch zur einflussreichsten Modefirma der Welt. Frauen überall übernahmen den Stil. Königinnen wie Elisabeth II. zählten zu Diors Kundinnen. Dass die Präsentation der „Cruise-Kollektion“ von Dior 2020 in Apulien stattfand, war ein von der neuen Direktorin inszenierter Durchbruch in einer heißen Sommernacht.