Replik

Was versteht ein "Ökonom" unter "Wirtschaftswachstum"?

Felix Butschek setzt in einem Gastkommentar einmal mehr reflexartig die Alternativen zum Kapitalismus und BIP-Wachstum mit „Planwirtschaft“ gleich.

Der Autor: Christian Felber (geb. 1972) ist Autor der „Gemeinwohl-Ökonomie“ und Initiator der gleichnamigen Bewegung, die heute in 33 Staaten aktiv ist.

Wie viele Ökonomen setzt der Wirtschaftshistoriker Felix Butschek „Wirtschaftswachstum“ mit dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gleich (Die Presse, 10. Juni 2022), was vor dem geschichtlichen Entstehungshintergrund der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eine auffallende Ungenauigkeit ist. Der Anfang der 1930er Jahre mit der Aufbereitung der statistischen Basis für das GDP beauftragte Simon Kuznets befasste sich mit Grundsatzfragen wie der, ob unter „national income“ Geldströme, Güter oder befriedigte Bedürfnisse („needs“) zu erfassen seien. Erst durch eine Kette von Werturteilen wurde der Vorläufer des späteren BIP zu einer reinen Agglomeration von Finanzkennzahlen, der – laut Kuznets – mit „general welfare“ nicht mehr viel zu tun hatte. Auf dem Weg dorthin beklagte er: „Für jene, die nicht direkt mit dieser Form von Arbeit vertraut sind, ist das Maß, in dem nationales Einkommen durch implizite und explizite Werturteile beeinflusst wird, schwer nachzuvollziehen.“

Die Lehre aus dieser Geschichte: Das allererste Werturteil in der Wirtschaftswissenschaft ist die Definition von „Wirtschaft“ an sich, die darüber entscheidet, was mit „Wirtschaftswachstum“ überhaupt gemeint sein könnte.

Eine klare Definition

Eine Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftsmodell beginnt mit einer klaren Definition von Wirtschaft. An Kuznets anknüpfend könnte es um die Befriedigung realer (Grund-)Bedürfnisse gehen, innerhalb der ökologischen planetaren Grenzen und auf Basis demokratischer Grundwerte. Das Ergebnis könnte zwar weiterhin eine Marktwirtschaft sein, jedoch keine kapitalistische, die ihren „Erfolg“ mit dem BIP misst und dessen Definition mit „Wirtschaft“ kurzschließt; sondern eine ethische, der es primär um die Befriedigung realer Grundbedürfnisse lebender und zukünftiger Generationen geht, weshalb sie die Erreichung dieses Ziels auch mit adäquaten Metriken misst. Auf volkswirtschaftlicher Ebene könnte ein Gemeinwohl-Produkt ausdrücken, wie gesund, satt, glücklich, solidarisch, nachhaltig, demokratisch und friedlich eine Gesellschaft und ihre Mitglieder sind. Unternehmen könnten in Gemeinwohl-Bilanzen messen, welchen Beitrag sie zur Erreichung just dieser Ziele leisten; und Investitionen könnten daraufhin geprüft werden, ob sie tatsächlich zum „Wirtschaftswachstum“ beitragen, neben der Bewertung von Rentabilität und Finanzrisiko.

Genau das ist der Vorschlag der Gemeinwohl-Ökonomie, die etwas ziemlich anderes beinhaltet und bezweckt als das, was Butschek verstanden haben dürfte. Er folgt dem irreführenden Apodiktum von Ludwig von Mises: „Entweder Kapitalismus oder Sozialismus; ein Mittelding gibt es eben nicht.“ Ein solcher Manichäismus ist nicht nur unwissenschaftlich, er blockiert auch aktuell dringend benötigte Alternativen.

Passendes Modell überfällig

Die Gemeinwohl-Ökonomie liefert ein stringentes Konzept, das von der realen Wirtschaft zunehmend angenommen wird: Bald 1000 Unternehmen haben eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt. Vor kurzem wurde die Technische Hochschule Nürnberg als erste staatliche Hochschule in Deutschland zertifiziert. In Österreich ist die FH Burgenland vorausgegangen, die mit dem Studienzentrum Saalfelden einen MA Angewandte Gemeinwohl-Ökonomie anbietet. Der erste Lehrstuhl Gemeinwohl-Ökonomie an der Universität Valencia hostete im Frühjahr dieses Jahres die zweite wissenschaftliche Konferenz zur Gemeinwohl-Ökonomie. In Zeiten des Klimawandels, des Rückgangs der Artenvielfalt (biogenetische Verarmung) und stark steigender Ungleichheit ist eine neue Sicht auf „Wirtschaft“ und ein dazu passendes Modell überfällig.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

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