Interview

Menschenrechtsexperte: "Putin hat die EU geeint"

The pigeon flies over the mural of Russian President Vladimir Putin, in Belgrade
The pigeon flies over the mural of Russian President Vladimir Putin, in BelgradeREUTERS
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Der Menschenrechtsexperte, Manfred Nowak, erwartet, dass Russlands Überfall auf die Ukraine den Zusammenhalt in der EU stärkt und Fortschritte bei den europäischen Grundrechten ermöglicht.

Die Presse: Sie sind Botschafter der Initiative „Jeder Mensch“, die sich nach einer Idee von Ferdinand von Schirach für die Durchsetzung von sechs neuen EU-Grundrechten einsetzt. Wie hoch schätzen Sie die Chance für einen Verfassungskonvent ein, bei dem eine grundlegende Neuaufstellung der EU beschlossen werden könnte?

Manfred Nowak: Ich glaube, dass das jetzt wirklich eine gute Chance ist – nicht zuletzt dank Präsident Wladimir Putin, der mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine genau das Gegenteil von dem erreicht hat, was er wollte: nämlich die EU zu einen. Selbst Polen ist jetzt auf Linie mit Brüssel, nur Ungarn schert noch aus. Alle sind sich bewusst, dass man die Union in dieser Krisensituation stärken muss.

Wie kann das gelingen?

Wir brauchen eine europäische Verfassung und müssen mehr Kompetenzen nach Brüssel übertragen. Das bedeutet auch eine Abkehr vom Konsensprinzip, mit dem einzelne Mitgliedstaaten wichtige Entscheidungen blockieren können.

Viele EU-Länder wie Ungarn beharren jedoch auf der Einstimmigkeit. Bei den Russland-Sanktionen etwa hätte Budapest sonst keine Vetomöglichkeit, die ja auch als Drohgebärde in anderen Streitigkeiten mit Brüssel eingesetzt werden kann – Stichwort Rechtsstaatlichkeit.

Durch die Aufnahme der exkommunistischen Staaten aus Mittel- und Osteuropa in die EU wurde zweifellos ein Wagnis eingegangen. Nationalistische Strömungen, die gegen Rechtsstaat und Menschenrechte eintreten, sind dort leider relativ stark. Doch ich bleibe optimistisch, dass es möglich ist, diese zu überwinden. Die größten Fortschritte im Bereich der Menschenrechte wurden in der Geschichte immer durch Revolutionen angefacht. Der Leidensdruck muss also groß sein. Ich hoffe, dass wir nicht einen dritten Weltkrieg brauchen, damit die Politik endlich aufwacht.

Wie kann der Druck auf die ungarische Regierung erhöht werden?

Die EU muss das Artikel-7-Verfahren einsetzen, das einer Einstimmigkeit mit Ausnahme jenes Staates bedarf, gegen den es gerichtet ist. Bisher haben sich Polen und Ungarn gegenseitig unterstützt und ein solches Verfahren, das mit dem Stimmrechtsentzug enden kann, verhindert. Derzeit aber steht Polen wegen der Russland-Sanktionen in Konflikt mit Ungarn. Es wäre also ein guter Zeitpunkt für den Einsatz des Verfahrens. Die EU muss wegkommen von der Diplomatie, die immer die Vetorechtsbedingungen eines Mitgliedstaats akzeptiert.

Am Fall Ungarns und Polens sieht man gut, dass Grundrechte mitunter nur auf dem Papier existieren. Sind sie am Ende reine Utopie?

Wir werden nie in einer Gesellschaft leben, in der Menschenrechte zu 100 Prozent verwirklicht sind. Dennoch sollte man sich ihnen stetig annähern, was ja auch passiert, betrachtet man nur den Bereich der Nichtdiskriminierung benachteiligter Gruppen. Österreich zum Beispiel war vor Jahrzehnten ein homophober Staat – und ist es in manchen Bereichen heute noch. Dass wir aber große Fortschritte gemacht haben, ist dem Gerichtshof für Menschenrechte zu verdanken. Die Republik musste nach und nach Reformen durchführen, die Situation hat sich verbessert. Auch die Todesstrafe wäre heute undenkbar. Das sind langsame Entwicklungen, aber sie gehen in die richtige Richtung.

Die geforderten Grundrechte von Schirachs sind sehr allgemein gehalten, sollen aber vor den Europäischen Gerichten einklagbar sein. Im ersten Artikel heißt es etwa: „Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.“ Könnte ich als Bewohnerin einer Großstadt mit viel Verkehr und Luftverschmutzung also einfach so Klage einreichen?

Ja, aber ein Gericht muss diese Klage natürlich abwägen und sich ansehen, was von einem Staat vernünftigerweise erwartet werden kann. Gerade in Umweltfragen haben die Gerichte erkannt, dass die Politik zu wenig fähig oder willens ist, nötige Maßnahmen zu setzen.

Ein weiteres Thema, bei dem die Politik wie gelähmt erscheint, ist die Migration. Österreich zählt nicht zu jenen Mitgliedstaaten, die Flüchtlinge über einen festgelegten Verteilungsmechanismus aufnehmen wollen.

Ich halte das für völlig falsch. Wir sind, um ökonomische Kapazitäten und Mangelberufe ausfüllen zu können, auf geregelte Migration angewiesen. Um unseren Lebensstandard zu halten, brauchen wir aus demografischer Sicht nicht weniger Einwanderer, als tatsächlich zu uns kommen. Die Ängste sind einfach irrational. Österreicher sind auch nicht per se gegen Migration, es sei denn, sie werden von der Politik entsprechend indoktriniert.

Zur Person

Der Jurist Manfred Nowak setzt sich seit Jahren für eine internationale Stärkung der Menschenrechte ein. In Österreich ist er im Menschenrechtsbeirat des Innenministeriums tätig. Mit dem Schriftsteller und Juristen Ferdinand von Schirach wirbt er aktuell für neue EU-Grundrechte. 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2022)

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