Riklin-Zwillinge

"Nullsternehotel" in der Schweiz: Diese Kunst raubt uns den Schlaf

Na gute Nacht: Die Schweizer Konzeptkünstler Patrik und Frank Riklin in ihrem neuesten „Nullsternehotel“ im Ort Saillon im Wallis.
Na gute Nacht: Die Schweizer Konzeptkünstler Patrik und Frank Riklin in ihrem neuesten „Nullsternehotel“ im Ort Saillon im Wallis.Atelier für Sonderaufgaben
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Die Riklin-Zwillinge schlagen wieder zu: Bei ihrem jüngsten Nullsternehotel unter freiem Himmel verzichten die Schweizer Konzeptkünstler aufs Idyll. Warum, verraten sie hier.

Das ist jetzt aber nicht nett. Millionen Menschen haben geschmunzelt, als die Riklin-Brüder 2008 ihr Nullsternehotelzimmer in einem Atombunker installierten, unter dem Motto „The only star is you“. Noch mehr haben sehnsüchtig geseufzt, seit sie ab 2016 eine „immobilenbefreite“ Übernachtungsmöglichkeit (Doppelbett, zwei Nachtkästchen mit Lampen) unter die tausend Sterne der schönsten Schweizer Alpenlandschaften stellten, umgeben von Wiesenblumen und mit dem sanften Sound von Kuhglocken.

Nun ist es vorbei mit der Idylle. Die beiden Konzeptkünstler aus St. Gallen reagieren auf eine aus den Fugen geratene Welt: Krieg in Europa, Energiekrise, Inflation. Das Bett steht nun im Walliser Ort Saillon an einer Tankstelle. Der Mast mit den hohen Benzinpreisen überragt es, die Bundesstraße daneben tönt laut. Es ist auch „nicht Zeit, zu schlafen“.

Wem als zahlender Gast beim nachtwachen Sinnieren über die trübe Weltlage etwas Brauchbares einfällt, soll es auf einen Zettel schreiben und unter der Matratze deponieren. Damit haben die tiefsinnigen Schelme die Kurve gekratzt. Die Popularität ihres Nullsternehotels war ihnen unangenehm geworden. „Es ist nicht unser bestes Werk“, bekennt Patrik, „wir sind damit aus Versehen erfolgreich.“ Als sie ihre Freiluftversion präsentierten, stempelte man es noch als Kuriosität ab. Doch dann mutierte naturnahes Logieren zum Megatrend im Tourismus, und so „ist es Mainstream geworden, was uns nicht lieb ist“. Das offene Zimmer hat zuletzt nur noch offene Türen eingerannt.

(c) REUTERS (DENIS BALIBOUSE)



Frank erinnert sich an die ursprüngliche Idee: „Nicht Verzicht auf Komfort, sondern die Freiheit, ein eigenes Wertesystem zu erfinden, Luxus für sich neu zu definieren.“ Aus dem einen Bett, an das ein Butler am Morgen das Frühstück bringt, wurde ein Franchisemodell. Auf der Warteliste stehen über 6000 Schlafwillige. Dabei kostet der Spaß 325 Franken pro Nacht, auch an der Tankstelle, wo der Mensch nicht mehr in der Natur aufgeht, sondern ihr fremd und befremdet gegenübersteht.

Heiterer Ernst

Lustig sieht es trotzdem aus, und das soll es auch. „Der Humor dient als Scharnier, die Situationskomik als Stilmittel. Sie ist ein Türöffner, aber nicht Programm“, erklärt Frank, der in den Projekten des gemeinsamen „Ateliers für Sonderaufgaben“ einen „heiteren Ernst“ am Werke sieht. Noch etwas durchzieht ihre Arbeiten: dass sie immer kunstferne Kooperationspartner mit ins Boot holen, „Komplizen“ genannt. Politiker, Unternehmer, Bürger, meist am Land, in Dörfern oder Gemeinden. „Die Welt beginnt im Kleinen“, meint Patrik, „dort finden wir die besten Voraussetzungen, um eine neue Wirklichkeit auszuprobieren.“

So buhlten die Riklins wochenlang um das Vertrauen von Bürgermeistern der kleinsten Gemeinden der Schweiz und ihrer Nachbarländer. Am Ende waren diese Feuer und Flamme für die Idee, auf einem steilen Berggipfel zusammenzukommen, als Kontrapunkt zu den globalisierten Gipfeltreffen der G7 und G20. Oft geht es aber auch um Interventionen in den ruralen Alltag, was Widerstand provoziert. In Mels gingen Bauern mit Mistgabeln auf die Zwillinge los, weil diese allen Bewohnern drei Monate lang täglich für zehn Minuten den Strom abschalten wollten. Das Projekt „Denkpause“ kam zur Abstimmung, 92 Prozent votierten dagegen. Enttäuscht? „Im ersten Moment ja“, gesteht Frank. Aber „es hat einen Diskurs ausgelöst“, meint Patrik, „die Unterbrechung hat im Kopf stattgefunden.“ Und das Projekt soll, wie das Nullsternehotel, immer weitergehen, als Prozess, mit neuen „Komplizen“.

Wie aber ist es zu ihrer artistischen Komplizenschaft gekommen? Frank und Patrik, heute je 48 mit nur neun Minuten Differenz, wuchsen wohlbehütet auf, als zwei von sechs Kindern des Rektors der renommierten Uni St. Gallen. Mit acht Jahren begannen sie, im Wald heimlich Hütten zu bauen, die immer größer und solider gerieten. Als die Baupolizei einschritt, waren sie schon 17. Vertrieben aus dem kreativen Paradies der Kindheit, landeten sie, nach Lehren als Hochbauzeichner, bei der Kunst. Nur das Studium absolvierten sie getrennt. Patrik in Frankfurt, wo er auf der Städelschule Hermann Nitsch erlebte: „Sein lustvolles Rebellieren gegen Gesellschaft und Politik – da sind wir uns sehr nahe.“ Als weitere Komplizen im Geiste nennen die Brüder Christoph Schlingensief und Milo Rau mit seinem neuen Theater.

Mit dem klassischen Kunstbetrieb wollen sie nichts zu tun haben. Ein Nullsternebett im Museum? „Da wäre es verharmlost, es hätte nichts mit der Realität zu tun.“ Sie wollen raus in die Welt, „positive Probleme“ provozieren, eine „Karambolage von Gedanken“. Dass sie dabei auf die Reaktion der Medien angewiesen sind, dass sie Aufträge von Firmen oder Tourismusverbänden annehmen, macht sie vielen suspekt. In Saillon gibt es auch drei gewohnte Freiluftsuiten, im Weinberg und auf der Alm, die wohl auf mehr Nachfrage stoßen als das Bett an der Tankstelle. Man muss ja von etwas leben, auch wenn man keine Gemälde verkauft.

(c) REUTERS (ARND WIEGMANN)



Die Rechtfertigung: Bei ihrem Geschäftsmodell müssten sich die Komplizen dem Konzept beugen, niemand dürfe da dreinreden. Das schaffe weniger Abhängigkeiten als von Kuratoren oder Galeristen, die nur das ausstellen, was sich vermarkten lässt: „Wir kennen weltberühmte Künstler, die sich damit nicht wohl fühlen“, verrät Frank. Ihre eigene Zusammenarbeit sei alles andere als harmonisch, es werde viel gestritten: „Da sind zwei Köpfe, die sich reiben. Aber es ist eben auch immer jemand da, der mit einem mitspinnt.“

Projekte

Im „Atelier für Sonderaufgaben“ brüten Frank und Patrik Riklin seit 1999 ihre Kunstprojekte aus. Weitere spektakuläre Aktionen:

Fliegenretten in Deppendorf sollte ursprünglich nur eine Fliegenfalle des Insektizidherstellers Reckhaus in Bielefeld bewerben. Es wandelte die Firma zum Vorreiter der Branche beim kompensatorischen Artenschutz.

Bignik ist eine riesige Picknickdecke, zu der jeder Bewohner der Ostschweiz bis 2043 einen Teil beitragen soll. Einmal jährlich wird das wachsende Stückwerk an einem wechselnden Ort zusammengefügt.

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