Mein Montag

Schade, dass Sie nur die Überschrift gelesen haben

Die größte Bibliothek ist wohl die der ungelesenen Bücher.
Die größte Bibliothek ist wohl die der ungelesenen Bücher.APA/AFP/dpa/ARNE DEDERT
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Das Gefühl, ein Buch gelesen zu haben, nur weil es daheim im Regal steht, und ähnliche Phänomene.

Mit Büchern ist es ja so: Man kauft eines, freut sich schon darauf, es endlich zu verschlingen, legt es ganz oben auf den Stapel der ungelesenen Bücher und räumt es irgendwann ins Regal. Da steht es jetzt. Und irgendwann, wenn man oft genug den Buchrücken gesehen hat, stellt sich das Gefühl ein, als hätte man es tatsächlich gelesen. Im besten Fall hat man die Verfilmung gesehen und hat dann zumindest eine Ahnung, worum es gehen könnte. (Es sei denn, es ist ein Sachbuch, das kommt nicht ganz so oft in Hollywood an.) Ähnlich ist es mit E-Books, die man auf einem Lesegerät hortet – mit dem Unterschied, dass man all die Bücher, die man noch nicht gelesen hat, nicht so dekorativ an der Wohnzimmerwand anbringen kann.

Mit Artikeln im Internet ist das übrigens ganz ähnlich. Da schnappt man beim Scrollen durch den Facebook-Feed einen Titel auf, liest vielleicht noch den Vorspann. Und hat das Gefühl, dass man den kompletten Text gelesen hat. Was man vor allem dann merkt, wenn jemand eine Reaktion darauf gibt. In der steht dann entweder etwas, das nur am Rande mit dem Inhalt des Beitrags zu tun hat. Oder es wird angemerkt, dass über dieses und jenes natürlich wieder nichts geschrieben wurde – was allerdings genau das ist, was in dem Artikel steht. Der Überschriftenleser ist also ähnlich tief in ein Thema eingetaucht wie der Buchrückenbetrachter.

Beides übrigens Begriffe, die es bisher weder in das Österreichische Wörterbuch noch in den Duden geschafft haben. Apropos, das sind Bücher, bei denen es nicht ganz so wichtig ist, sie vom Anfang bis zum Ende zu lesen. Möglich ist das natürlich, und man kann dabei seinen Spaß haben – der Spannungsbogen ist halt nicht ganz so wie bei einem Roman von Stephen King. Aber unter uns: Wenn man im Wörterbuch etwas nachschlagen will, reicht der Buchrücken trotzdem nicht.

E-Mails an:erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2022)

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