Redebedarf

„Sorry“ tut doch gar nicht weh

100 Rätsel der Kommunikation, Folge 5. Toll: Jetzt kann man sich auch digital entschuldigen, wenn man analog miteinander redet.

Der Mensch ist ein lustiges Wesen. Sieht er einen Tisch, sagt er „Tisch“. Obwohl er auch „Mupsibu“ dazu sagen könnte. Aber scheinbar ist es irgendwie ausgemacht, dass das Ding so heißt. Damit auch alle wissen, wovon man redet, haben alle, ohne es zu wissen, zugestimmt, dass man es so nennt. Das klingt ja fast verbindlich. Ist es aber nur, wenn man verstanden werden will. Der Rest kann ruhig Mupsibu sagen. Oder Wurstsalat. Im Alltag nimmt man ja oft Wörter aus dem Reservefach, wenn die erste Wahl vielleicht doch zu hart aufschlagen würde in der Realität. Da sagen witzige Menschen „Madame“ zu kleinen lästigen Kindern. Oder witzige Kellner „Monsieur“ zu Gästen, die ihnen auf die Nerven gehen. Man muss auch nicht „Wiener Schnitzel“ sagen, „Breselfetzn“ würde auch funktionieren. Die Sprache ist toll, wenn man es witzig meinen will. Oder ironisch. Oder es gar nicht so meinen will, wie man es sagt.

Vor allem bei „Entschuldigung“, „Verzeihung“ oder „Es tut mir leid“ klingt das ja wirklich so als wäre etwas geschehen. Da mag man’s dann doch gern ein wenig digitaler, sprich unverbindlicher. Als würde es einen selbst nicht soviel angehen, dass man einen großen, großen Blödsinn gemacht hat. Es funktioniert fast so wie digitale Solidarität, wenn man etwa sein Facebook-Profilfoto in Ukraine-Farben einfärbt. Oder in französischen, wenn in Paris gerade eine Bombe explodiert ist. Man muss fast gar nichts dafür tun. Sich nicht exponieren, sich nicht bewegen, man muss es nicht einmal so meinen. Man sagt etwas, aber irgendwie doch nicht. So ohne Augenkontakt bleibt alles vage. Und inzwischen gibt es auch ein Wort, das man sich dort hergeholt hat, wo man alles findet, wenn man etwas Bestimmtes sagen will, aber nicht so ganz und doch anders. Im Englischen.

Das Gute: Man hat all die schönen deutschen Wörter zur Verfügung, die man verwenden könnte. Und dann zusätzlich all die Wörter in all den anderen Sprachen in petto. Manche Menschen brauchen einen Tag lang eh nicht mehr als „He“ oder „Oida“. Aber wenn's dann doch brenzlig wird, wäre da noch die digitale Variante, die auch analog bestens funktioniert: „Sorry“. So schön unverbindlich. Weil's auch ein bestimmtes semantisches Merkmal mitträgt: „Aaach, wenn’s sein muss, aber ich sag’s gleich, es war nicht nur meine Schuld“.

Sorry dies. Kaffee verschüttet, Termin vergessen, Beziehung beendet. Sorry das. Geburtstag vergessen, egoistisch gehandelt, nicht zurückgerufen. Sorry macht alles nicht so schlimm. Obwohl man ja nie weiß, wie schlimm es gefühlsmäßig beim anderen durch Körper und Kopf wallt, wenn etwa der Erdäpfelsalat aus ist. Oder schon Sperrstunde ist. Für Menschen, die sich grundsätzlich mit Entschuldigen schwertun, ist „Sorry“ natürlich super. Man entschuldigt sich gleich viel öfter. Weil wenn’s dir leid tut, sag „Sorry“, dann tut’s nicht so weh.

Bleibt nur eines zu befürchten: Was tun die Institutionen und Persönlichkeiten, die erst mühsam über die letzten Jahre gelernt haben, sich überhaupt zu entschuldigen? Die Wiener Linien. Die Fluglinien. Oder die ÖBB. Oder die Politiker, wenn sie etwas angestellt haben, was riesig bleibt, selbst wenn man es konsequent kleinredet. Dann könnte es doch wieder seltsam klingen:  Sorry, dass du die Nacht auf dem Flughafen verbringen musst. Sorry, der Zug hat vier Stunden Verspätung. Sorry, dass du nicht mehr nach Hause kommst. Spätestens dann wünscht man sich mehr als eine digitale Sprachnachricht von Chris Lohner. Man wünscht sich, dass sie einen in den Arm nimmt, in die Augen schaut und sagt: Es tut mir leid.

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