Ratsvorsitz Tschechien

Der Schwerpunkt der EU rückt nach Osten

Ministerpräsident Petr Fiala
Ministerpräsident Petr FialaAPA/AFP/JOHN THYS
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Tschechien übernimmt die Führung der Union zu einem Zeitpunkt, an dem alle wichtigen Fragen in Osteuropa entschieden werden.

Die Übergabe der Präsidentschaft des Rats von Frankreich an Tschechien am heutigen Freitag markiert auch eine Verlagerung des Schwerpunkts der politischen Befindlichkeiten und Prioritäten der Union – und zwar nach Osten. Der Krieg in der Ukraine, die feststeckende Erweiterungspolitik auf dem Westbalkan, die Rechtsstaats- und Demokratiekrise in Ungarn und Polen: So gut wie alle großen aktuellen Herausforderungen Europas spielen sich in jener Zone des Kontinents ab, dem Frankreichs politisches Establishment seit dem Fall der Berliner Mauer mit einer Mischung aus Unverständnis, Misstrauen und Überheblichkeit gegenübersteht.

Diese problematische Mischung ließ sich genau am Ende der sechs Monate des französischen Ratsvorsitzes an einem konkreten Beispiel beobachten. Paris drängte darauf, unbedingt noch den Erfolg der Lösung der bulgarischen Blockade der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien verbuchen zu können. Am Donnerstag, kurz vor Ende der Präsidentschaft, legte Staatspräsident Emmanuel Macron zu diesem Zweck einen neuen Kompromissvorschlag gemeinsam mit Ratspräsident Charles Michel vor. Ein erstes französisches „Kompromisspapier“ in der vergangenen Woche war fast durchwegs den bulgarischen Forderungen gegenüber Nordmazedonien gefolgt, die unter anderem dazu geführt hätten, dass die sozialdemokratische Regierung in Skopje die Verfassung ihres Landes hätte ändern müssen. Der neue Vorschlag, so heißt es in einer ersten Reaktion der nordmazedonischen Regierung unter Ministerpräsident Dimitar Kovačevski, gehe immerhin auf beide Seiten ein und sei eine geeignete Basis für weitere Verhandlungen. Soll heißen: Die Lösung der bulgarischen Blockade liegt nun bei der tschechischen Präsidentschaft.

Prager Türöffner für Balkan

Sachkundige Beobachter wenden zwar ein, dass ein Kompromiss zwischen Skopje und Sofia noch immer nötig sei, auch auf Basis dieses Papiers. Doch dafür wird es Fingerspitzengefühl und eine Sensibilität für die identitären und kulturellen Nöte eines kleinen osteuropäischen Landes brauchen, an denen es in Paris mangelte. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben für die tschechische Regierung in ihren sechs Monaten Ratsvorsitz sein, den Weg für Nordmazedonien freizumachen – und damit auch für Albanien, denn die Beitrittsbegehren der beiden Staaten sind aneinandergekoppelt.

Denn der Krieg in der Ukraine verschärft die Notwendigkeit für die Union, geopolitisch glaubwürdig zu sein. Und das bedeutet in erster Linie, einem kleinen, armen Land wie Nordmazedonien, das alle Hausaufgaben erfüllt hat, endlich die Tür zu den Beitrittsverhandlungen zu öffnen.
Der russische Überfall auf die Ukraine samt den geopolitischen, militärischen, ökonomischen und sozialen Folgen wird den Ratsvorsitz prioritär beschäftigen. Und hier wird die schmerzhafte geschichtliche Erfahrung der Tschechen mit dem Moskauer Imperialismus (Prager Frühling) eine prägende Rolle spielen – von der Frage, wie über neue Sanktionen verhandelt wird, bis zu jener, wie schnell damit verbundene Gesetzgebungsvorhaben vorangetrieben werden. Beispiel: Frankreichs EU-Botschafter strich den orthodoxen Patriarchen Kirill von der Liste der sanktionierten Russen, um das gesamte sechste EU-Paket nicht am Veto Ungarns scheitern zu lassen. Ministerpräsident Petr Fiala hat zu Viktor Orbán, seinem Amtskollegen aus der Visegrád-Gruppe, einen ganz anderen Draht als Frankreichs Staatspräsident, Emmanuel Macron.

Fiala besuchte bereits Mitte März das zu dieser Zeit noch umkämpfte Kiew als erster europäischer Regierungschef, gemeinsam mit seinen polnischen und slowenischen Amtskollegen. Damals wurde im Westen noch pikiert die Nase über eine solche „Showeinlage“ gerümpft. Doch die Osteuropäer haben in diesem Konflikt die größere Sachkenntnis und die besseren Argumente. Ein Nachgeben der Union gegenüber dem Kreml ist deshalb in diesem Jahr kaum zu erwarten.

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