Der Handelsminister wendet sich an den Kanzler – das ist durchaus ungewöhnlich.
Neue Freie Presse am 30. Juni 1932
Wie wir erfahren, hat man in parlamentarischen Kreisen Kenntnis von einem Schreiben erhalten, das Handelsminister Dr. Jaconcig vor einigen Tagen an den Bundeskanzler Dr. Dollfuß gerichtet hat. Diesem Schreiben kommt schon deshalb besondere Bedeutung zu, weil Dr. Jaconcig mit aller Offenheit darin feststellte, daß durchgreifende Hilfsmaßnahmen getroffen werden müssen, wenn nicht die Wirtschaft zugrunde gehen soll.
Dr. Jaconcig verweist in seinem Schreiben darauf, daß die Wirtschaft neue Steuerlasten nicht ertragen kann, wenn ihr nicht durch andere Maßregeln Hilfe gebracht wird. Das Problem der unerschwinglichen sozialen Lasten und des zu hohen Zinsfußes muß ebenfalls einer Lösung zugeführt werden. Wenn man von einer Senkung der Arbeitshöhne im Rahmen der Herabsetzung der Produktionskosten spricht, so muß aus die damit im Zusammenhang stehende notwendige Senkung der Preise für die wichtigsten Bedarfsartikel hingewiesen werden.
Ohne diese Maßregel ist eine weitere Senkung der Arbeitslöhne zum großen Teile undurchführbar. Man darf die Aermsten der Armen nicht zur Verzweiflung treiben und es sei in diesem Zusammenhange auf die Lage der Kohlenarbeiter verwiesen, die mit ihren Familien einer Hungerkatastrophe ausgesetzt sind. Wenn man daran geht, die Produktionskosten durch eine Reihe von Maßnahmen zu senken und die Landwirtschaft durch Zinsherabsetzungen und durch Hilfsmaßnahmen, die einer Verschleuderung von Werten im Falle von Exekutionen vorbeugen sollen, zu unterstützen, so muß man gleichzeitig darangehen, die Spitzengehälter einer Revision zu unterziehen.
Es ist in der gegenwärtigen Zeit unmöglich, vom Arbeiter Opfermut zu verlangen, solange es bequeme Posten gibt, die demjenigen, der sie innehat, ein Jahreseinkommen von 170.000 Schilling bringen. Gewiß sollen hochpotenzierte Leistungen und ein bedeutendes Maß von Verantwortung entsprechend bezahlt werden. Pflicht der Regierung ist es aber, in solchen Zeiten nicht nur im eigenen Rahmen Sparmaßnahmen durchzuführen, sondern auch dafür zu sorgen, daß bei Privatgesellschaften, die womöglich noch vom Staat werden müssen, mit Sparmaßnahmen von oben her mit gutem Beispiel vorangegangen werde.
Der Irrtum des Zwangsindex
Die Regierung meint, eine Krankheit zu heilen, wirkt aber allenfalls auf die Symptome ein.
Neue Freie Presse am 29. Juni 1922
Die Teuerung besitzt, abgesehen von ihrer existenz-erschwerenden und sohin am meisten aufscheinenden Eigenschaft, eine harte aber wichtige wirtschaftliche Funktion, indem sie in Zeiten des Mangels Sparsamkeit erzwingt. Der solcherart verminderte Konsum führt in der normalen, durch künstliche Mittel ungehemmten Wirtschaft zur Wiederherstellung ausreichender Vorräte, und in zweiter Linie zur Regulierung der Preise nach unten. Dieser Grundsatz schließt Hilfsaktionen zur Abwehr tatsächlicher Not nicht aus: wenn aber eine große Gruppe von Konsumenten die Zusicherung erhält, im Falle wie immer gearteter Teuerung unter allen Umständen so viel Geld zu bekommen, um diese Teuerung restlos auszugleichen, so wird trotzdem - weil die Indexerhöhung aus verständlichen Gründen hinter der Teuerung hergehen muß — die Existenzerschwerung nicht restlos aufgehoben, insbesondere nicht verhindert, daß im Zeitintervall zwischen Preiserhöhung und Indexausgleich Unzufriedenheit in allen Erscheinungsformen auftritt.
Hingegen wird die wirtschaftshygienische Funktion der Teuerung, bestehend in Minderkonsum, Materialersparnis und Preisfall an dieser Stelle gänzlich gehemmt, weil der durch den Index begünstigte Konsument - im Gegensatz zu anderen Kreisen der Bevölkerung - in der Erwartung sicheren Ausgleiches von jeder Selbstbeschränkung absehen kann. Es ist auch nicht zu leugnen, daß Kenntnis des Sachverhaltes gewisse Produzenten und Händler von dem sonst im eigenen Interesse geübten Bestreben abhält, einen Teil der Verteuerung auf eigene Schultern zu nehmen und derart die letztere nicht voll auswirken zu lassen.
Wenn die Regierung in dem Friedensabkommen mit ihren Angestellten diese eisenharte, durch keine These und durch keinen Gewaltakt, aber auch durch kein humanitäres Empfinden, so sehr es am Platze ist, abzuschaffende Tatsache ignoriert und sich aus die absolut zwangsläufige Einhaltung des Vollindex verpflichtet, so hat sie Rechtbehalten in Geringem mit Preisgabe von Großem bezahlt. Solches Abkommen verrät die „politische Hand", welche nur Druck und Gegendruck, nicht aber das Gleichgewicht der Kräfte kennt, welche lästige Symptome, nicht die Krankheit zu bekämpfen gewohnt ist.
Nur eine Voraussetzung vermöchte diese Maßregel zu rechtfertigen, das ist die rechnerische Gewißheit, daß der Höhepunkt der Teuerung überwunden, daß ein neuerliches katastrophales Aufspringen oder ein monatelanges Weitersteigen der Preise nicht mehr zu befürchten ist. Nur die Gewißheit, nicht aber das aus augenblicklichen Gefühlen der Verlegenheit und aus Mußoptimismus gemischte Hoffen gibt das Recht zu solchem Einsatz.
Diese Gewißheit scheint aber keineswegs gegeben. Wir hatten vom April zum Mai eine Steigerung von 100 auf 125, die sich vom Mai zum Juni nur neuerlich 70 Prozent auf 212 erhöht hat. Dieser neue „Erregerstrom“ wird auf das ganze Wirtschaftssystem übergehen und, im Preise der Industrieprodukte als sekundäre Indexerhöhung wirkend, in kürzerer Frist auf den Konsum zurückströmen. Dieses Spiel wiederholt sich bis zur Erreichung einer Stromstärke, welche, wenn nicht eingeschaltete Sicherung das Aeußerste verhindert, das ganze Netz zerstören kann.
Die Staatsverwaltung hat in ihrem neuen System aber die Sicherungen herausgenommen, sie hat — ein anderes Bild für die gleiche Tat — das Sicherheitsventil gesetzlich belastet und das Manometer abgeschraubt. Als einzige, aber noch unsichere Hoffnung bleibt, daß Besserung der valutarischen Lage infolge Sicherung weitgehender, langfristiger Kredithilfe eine starke Verbilligung her Importe bewirkt und dadurch die erwähnte sekundäre Teuerung kompensiert. Geschieht dies, so ist der Nachteil ausgeglichen; andernfalls wird die Lage schlechter und gefährlicher sein als vorher, und die Ersparung eines Märzbezuges ist vielfach überzahlt. Der Hinweis auf diese Gefahr verträgt sich wohl mit dem gewiß vorhandenen heißen Wunsch, durch kommende Handlungen und Ereignisse die Befürchtung entkräftet zu sehen. Die geplante Abbauhemmung ist gegenüber den an geführten Bedenken von unwesentlicher Bedeutung; ihre Forderung als Korrelat der Zeitfolge im Aussteigen von Index und Lohn in gewissem Sinne verständlich.
Verbergen sich im Schoße der Inseln der Antarktis Diamanten?
Ein Bericht der "Daily Mail" aus Kapstadt teilt mit Mitglieder der Shackleton-Rowett-Expedition seien auf Grund ihrer Untersuchungen zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Inseln der Antarktis in ihrem Schoße Diamanten bergen.
Neue Freie Presse am 28. Juni 1922
Ein Bericht der "Daily Mail" aus Kapstadt teilt mit Mitglieder der Shackleton-Rowett-Expedition seien auf Grund ihrer Untersuchungen zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Inseln der Antarktis in ihrem Schoße Diamanten bergen.
In der Nähe von Süd-Georgia, dem Tore zur Antarktis, habe man, heißt es weiter, auf einer kleinen Insel Höhlungen vorgefunden, die durch monatelange Schürfversuche einer Kapstädtischen Gesellschaft entstanden seien. Die umfangreichen Grabungen habe ein privater Forscher veranlaßt, der Diamanten produzierte, die er auf dieser Insel gewonnen haben wollte. Mineralogische Untersuchungen des Bodens führten zum dem Schluß, daß man es hier tatsächlich mit einer Erde von jenem alluvialen Charakter zu tun habe, der die Annahme von Diamantenvorkommen rechtfertige. Außerdem wurde auch gelber Quarz gefördert. Es sei wahrscheinlich, daß man bei dem ersten bald einen zweiten Versuch folgen lassen werde, um den diamantenhältigen Grund festzustellen. Wunderbare Dinge von den Mysterien und der Romantik des Tiefseelebens an den Küsten dieser einsamen Inseln und im offenen Meere der südatlantischen und antarktischen Gebiete werden bei dieser Gelegenheit von dem Kapitän des Expeditionsschiffes, der "Quest", erzählt.
Es zeigte auf, wie die Tiefseeforschung die geheimnisvollen Zusammenhänge der Kontinente enthülle, wie sich die Inseln heute als Wegweiser für die ehemalige Verbindung von einem Kontinent zum anderen darstellen, und wie die nie geschauten Ozeantiefen bald, alles Unbekannten und Dunklen entschleiert, klar wie ein offenes Buch der menschlichen Erkenntnis erschlossen sein und den Schlüssel bieten werden zur Geschichte von Land und Meer der ersten Tage und vom Werden und Versinken der Welten. Gigantische Seewälder wurden entdeckt und neue Fischereiplätze gefunden. Die antarktischen Gewässer wimmeln von Fischen, die dem menschlichen Genusse zugeführt werden können. Die tiefgehenden Messungen wurden etwa 500 Meilen östlich der südlichen Sandwichgruppe vorgenommen, wo man eine Tiefe von 2700 Faden registrieren konnte. Als sich die "Quest" Tierra de Fuego näherte, geriet sie in eine Kelpkultur, die sich auf eine ganz ungewöhnliche Distanz von der Küste ausdehnte. Messungen ergaben eine Tiefe von 100 Faden, so daß diese Seebäume, deren Spitzen gerade noch über dem Wasser sichtbar waren, die höchsten Landbäume noch am 150 Fuß überragten.
Die Mordseuche in Österreich
Die psychologischen Ursachen der zahlreichen Tötungen.
Neue Freie Presse am 27. Juni 1932
Wiederum wird die Oeffentlichkeit erschüttert durch die Nachricht über einen grauenhaften Mord. Eben ist der Fall Matuschka mit der Verurteilung des Verbrechens beendet worden, kaum ist die Gerichtsverhandlung über Laudenbach vorüber, diesen Jack the Ripper im gemütlichen Format eines Wäschereisbesitzers, haben wir die Nachricht von der Ermordung des Schirmmachers Wagner in ihrer ganzen Furchtbarkeit zur Kenntnis genommen, schon erfahren wir von einer neuen und noch traurigeren Vernichtung eines Menschenlebens. Ein Kind ist das Opfer eines vertierten Menschen geworden, ein zehnjähriger wurde von einer Bestie zerfleischt.
Es muß natürlich die ganze Oeffentlichkeit sich darüber klar werden, daß hier Erscheinungen sind, die sehr ernst genommen werden müssen. Man wird genau zu prüfen haben, ob diese Häufung des Mordinstinkts nicht den Staat zu neuen Maßnahmen zwingt, welche die heutige Gesetzgebung reformieren. Eine ungemessene Fülle von Vorlagen ist dem Nationalrat zugegangen, nicht aber wird daran gedacht, die veralteten Kapitel des Strafgesetzes einer Neuerung zuzuführen, obwohl in dieser Richtung sehr wertvolle Vorarbeiten geleistet wurden.
Aber noch wichtiger als die Fragen der Gesetzgebung sind natürlich die Fragen allgemeiner sozialer Natur. Es ist offenkundig, daß unser ganzes Leben erfüllt ist von Gewalttätigkeiten, und jeder Zeitungsleser muß erkennen, daß die Instinkte der Unterdrückung, der Barbarei, der Grausamkeit gegen Andersdenkende, der ständigen Provokation sich ununterbrochen austoben. Die Todesernte jedes Sonntags besonders in Deutschland ist geradezu beklemmend und der Polizeipräsident von Berlin, Grzesinski, hat in einer Rede förmlich die Möglichkeit eines Bürgerkrieges an die Wand gemalt.
Schon heute ist sicher, daß die Wiederherstellung der Sturmabteilungen der Nationalsozialisten im Reich nicht etwa Beruhigung gebracht hat, sondern ein rasendes Ansteigen von Schießereien, von Tötungen und Verwundungen. Dazu kommt die furchtbare Lebensunsicherheit, hervorgebracht durch die wirtschaftlichen Ereignisse, durch das ununterbrochene Schwanken aller Bewertungen, sowohl der materiellen wie der moralischen, und das Beben und Zittern vor dem Morgen. Alle zivilisierten Staaten müßten einsehen, daß auch die sozialen und kriminalistischen Folgen des sogenannten Friedens nicht länger erträglich sind.
Die politische und wirtschaftliche Vergewaltigung muß mit Notwendigkeit auch in dem Einzelnen Hemmungslosigkeit erwecken und im Kleinen und Kleinsten vollzieht sich dasselbe, was ganze Völker zu erdulden haben. Man kann nur sagen, die Mordseuche, die ja nicht nur in Oesterreich vorhanden, ist eine soziale Warnung der schlimmsten Art.
Ein Hagelsonntag
Erst kamen einige Schreckschüsse, dann stieg das Wetter aber zum Trommelfeuer an.
Neue Freie Presse am 26. Juni 1922
Der diesjährige Juni ist überreich an den seltsamsten Spannungen des Wetters. Einen so einschneidenden Sturz wie gestern gab es aber noch nicht und einen Hagelschlag von solcher Intensität, wie ihn der gestrige Tag brachte, gab es seit drei Jahren nicht mehr. Es waren nicht nur die sagenhaften haselnußgroßen Eisstücke, wie sie bei jedem derartigen Naturereignis von überhitzten Phantasien beobachtet sein wollen, sondern es fielen wirklich und wahrhaftig Hagelkörner in der Größe einer vollsaftigen Kirsche.
Wo immer sich dieser Hagel entladen hat, ist es mit den Aussichten für die Obsternte vorbei und auch das Getreide mußte stark gelitten haben. Drückend heiß und schwül begann der Sonntag. Die Atmosphäre gleich morgens stark elektrisch geladen, gewissermaßen der politischen Stimmung entsprechend. Gegen Mittag begann das Blau des Firmaments ins Bleifarbene zu spielen. Das Sonnenlicht wurde fahl und fahler und nach 2 Uhr zuckten die ersten Blitze auf. Das Gewitter entwickelte sich sehr rasch. Von Nordwesten zog eine gelbgraue scharfrandige Wolke auf. Aus ihr sollte sich bald der Hagel entladen.
Erst kamen einige Schreckschüsse, dann stieg das Wetter aber zum Trommelfeuer an und an exponierten Stellen blieb, um die Fensterscheiben vor der Zertrümmerung zu bewahren, nichts übrig, als trotz des hereinströmenden Regens die Flügel zu öffnen. Das währte etwa fünf Minuten. Dann ließ der Sturm und auch der Hagel nach. Nur der Gewitterregen rauschte noch längere Zeit nieder. Bald waren die Straßenbahnwagen voll bis auf die Haut durchnäßter heimkehrender Ausflügler. Gegen Abend wurde es klar und angenehm abgekühlt.
Wien ist von der Welt abgeschnitten
Verkehrsstreik in Österreich: Keine Eisenbahn, keine Post, kein Telegraf, kein Telefon.
Neue Freie Presse am 25. Juni 1922
Wer regiert in Oesterreich? Die Frage muß einmal aufgeworfen werden, und die Antwort kann sich nicht viel länger verzögern. Wir müssen zur Klarheit darüber kommen, ob die Minister nur Marionetten sind, die von Drahtziehern gegängelt werden, die hinter der Szene bleiben. Wenn die Regierung nichts anderes ist als ein Ausführungsorgan fremder Befehle, dann könnte sie nicht mehr diesen Namen verdienen und müßte unter dem Hohngelächter der Welt und mit dem Zugeständnis der vollständigen Unfähigkeit zugrunde gehen. Die Regierung bietet neunhundertfünfzig Milliarden. Es handelt sich noch im ganzen um etwa zweihundert Millionen monatlich, und weil bei dieser, nach heutigen Begriffen unbedeutenden Summe nicht alles so geht, wie die Angestellten es wollen, ist Wien von der Welt abgeschnitten.
Es fehlt jede Möglichkeit, sich mit dem Auslande und mit den Provinzstädten zu verständigen, der ganze wirtschaftliche Verkehr, alle Freizügigkeit ist aufgehoben und jede auch noch so dringende Fahrt gerade für die Aermeren unmöglich gemacht. Wenn wir heute durch einen abenteuerlichen Zufall des Glückes Kredit bekommen würden, wir könnten es nicht erfahren. Wenn in Deutschland die Empörung über den grauenhaften Mord an dem Minister Rathenau zu schwersten Entladungen geführt hätte, wir wären nicht imstande, auch nur die nackte Tatsahe zu vernehmen. Es ist kein Zweifel, die Regierung hat Zugeständnisse gemacht, neben denen die Forderung der Angestellten geringfügig erscheint. Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Angestellten auf zwei Märzbezüge verzichtet haben, die ihnen nach dem brutalen Index der Teuerung zugekommen wären. Aber andererseits kann doch wirklich die Regierung nicht wie der arme selige Blasel mit einem "Bitte sehr, bitte gleich" antworten, um genau das und nur das zu tun, was die Organisationen fordern.
Man kann über die stupende Tatsache nicht hinweggehen, daß ein Beamter der niedersten Besoldungsgruppe mit drei Kindern nach den Anträgen der Regierung beinahe das Doppelte von dem erhielte, was ihm nach dem Wünschen der Angestellten zukäme. Schon übermorgen werden die Organisationen etwas mehr als sieben Milliarden und die Familienzulage bekommen, am 1. Juli mehr als fünfzig Milliarden, fünfzehn Märzbezüge! Wegen einer Wartefrist von wenigen Tagen den Blutumlauf des ganzen Staates zu unterbinden, die ganze Maschinerie des Güterumsatzes abzuschnüren, das ist unverständlich, darin liegt ein so schreiender Kontrast zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Hieb und Gegenhieb, daß der gewöhnliche Sterbliche fassungslos solchen monströsen Verirrungen gegenübersteht.
Die Frauen trotzen der dunklen Zeit
Eine Modesymphonie in Weiß und „Durchbruch-Optik“ wird beobachtet.
Neue Freie Presse am 24. Juni 1932
Aus Newyork wird uns geschrieben: Die Frauen trotzen der dunkeln Zeit in leuchtendem Weiß. Wir machen aus dem schmutzigen, staubigen Betonmonstrum Newyork eine Rhapsodie in Weiß. Wir tanzen, brunchen und lunchen in Weiß. Ja, wir sitzen in Weiß hinter der Tippmaschine. Weiße Mäntel marschieren in Bataillonen auf. Weiße Boleros leuchten über farbigen Kleidern, zigeunerhaft bunt gemusterte Paletots über kalkweißen oder kreideweißen Kleidern. Dazu große, weiße Hüte.
Die zweite Manie besteht darin, daß jeder Stoff durchbrochen ist. Es ist wie ein galgenhumoristisches Symbol der Zeit, in der Geld und Einkommen wie Wasser auf einem Sieb verschwindet. Die Welt gleicht einem Sieb und die Mode desgleichen.
Sie fängt bei den durchlöcherten Hüten an, dringt durch die hauchdünne Spitzenwolle der Bluse zu den Hemden und Höschen vor, die aus leichtester Netz-Milanese oder Netzseide auch an heißesten tagen einfach nicht zu spüren sind, hüllt die Beine in durchbrochene Strümpfe und vollbringt ihr Meisterwerk in den Schuhen, deren lästig drückendes Leder in ein Netz von winzigen Löchern verwandelt oder mit Cut-outs (Ausschnitten) zu zierlichen Ornamenten kombiniert ist. „Sheers“, Ensembles aus aller Art von transparenten Stoffen, beherrschen die Straße – immer phantasievoller kombiniert.
Ermordung des Feldmarschalls Sir Henry Wilson
Die Täter, zwei junge Iren, wurden verhaftet. Ein Polizist starb nach der Verfolgungsjagd der Täter.
Neue Freie Presse am 23. Juni 1922
Feldmarschall Sir Henry Wilson, der Chef des Generalstabes im letzten Kriegsjahre, ist heute nachmittag auf seinem Landsitze, nahe der Viktoriastation in London, erschossen worden. Der Feldmarschall war eben von der Enthüllung eines Denkmals in der Liverpool Street nach Hause zurückgekehrt. Die Täter sind zwei junge Irländer. Sie wurden nach langem Kampfe mit der Polizei verhaftet. Sie wehrten sich durch Revolverschüsse gegen die Festnahme und verwundeten zwei Polizisten.
Wie Ihr Korrespondent erfährt, stand Wilson seit einiger Zeit unter polizeilichem Schutz, da man ein Attentat auf ihn befürchtete. Auch in der Stunde des Mordes standen Polizisten vor seiner Haustür. Einen Schlüssel zum Verständnis des Mordes bildet es, daß Feldmarschall Wilson irischer Abstammung war. Es scheint sich um ein politisches Attentat von Sinn Feinern zu handeln.
Im Abendblatt der Zeitung waren dann weitere Informationen verfügbar:
Die englische Presse beschäftigt sich heute früh fast ausschließlich mit dem Morde an Marschall Wilson. Ueber die Verhaftung der Mörder werden noch einige Einzelheiten bekannt. Danach haben sich fast 200 Personen an der Verfolgung beteiligt. Die Mörder unterhielten auf der Flucht ein heftiges Feuer gegen ihre Verfolger. Ein Teil der letzteren benützte Automobile. Eine Anzahl der Verfolger hob auf der Straße Steine und andere Gegenstände auf, um sie nach den Mördern zu werfen. Als diese schließlich eingeholt und festgenommen wurden, hatte die Polizei größte Mühe, sie vor der Wut des Volkes zu schützen. Ein Erdarbeiter schlug dem größeren der beiden mit einer Schaufel mehrere Schläge über den Kopf und ein Fuhrmann schleuderte dem anderen eine Flasche ins Gesicht. Einer der Polizisten ist seinen Verwundungen erlegen.
Wer hält acht Stunden durch?
Wer die Hauptrunde in der Bridge-Championship von Österreich schaffen will, muss einiges aushalten.
Neue Freie Presse am 22. Juni 1932
Acht Stunden lang Bridge. Gestern begann um 5 Uhr nachmittags in dem prächtigen Festsaal des Oesterreichischen Klubs die Hauptrunde um das Championat von Oesterreich im Bridgespiel, die - abgesehen von einer einstündigen Pause von 9 bis 10 Uhr - bis 2 Uhr nachts dauerte. Fieberhafte Aufregung, Hochspannung liegt in der Luft.
An den zwölf Spieltischen, die in zwei Reihen aufgestellt sind, haben die feindlichen Teams Platz genommen.
Einige Pakete Karten liegen in Pappetuis auf den Tischen, darunter die Board, in welcher die Karten nach beendigtem Spiele aufgeteilt werden, um am nächsten Tisch frisch ausgespielt zu werden. Denn das ist der Tenor dieses Turniers, daß jedes Team, jeder Tisch das gleiche Spiel spielen muß. Die Teams, von denen jedes aus vier Spielern besteht, in zwei Paare geteilt, sitzen an verschiedenen Tischen, einander gegenüber. Holländer, Czechen, Ungarn, Jugoslawen, Deutsche, Oesterreicher kämpfen um die Palme.
Minutenlang herrscht lautlose Stille, die Empires – auf jedem Tisch sitzt einer - haben nur wenig Ursache, in den Lauf des Spieles einzugreifen· Fällt einmal ein Wort, so wird sofort um Ruhe gebeten. Nur das eintönige Geräusch, das das Mischen der Karten erzeugt, und die Lizitation unterbricht für Augenblicke das Schweigen. Ein Treff, zwei Karo, zwei Pik, drei Herz ist so ziemlich alles, was man zu hören bekommt. Ein bißchen Leben kommt in den Saal, als eine falsche Ansage bekannt wird.
Aber sofort ist die Turnierleitung, die in solchen Fällen zu intervenieren hat, zur Stelle und klärt den Fall auf. Ab und zu kann man beobachten, wie die Spieler eines Tisches nervös zu ihren zwei Teamkollegen die an einem anderen Tisch spielen, hinüberblicken. Mau merkt ihnen deutlich die Frage an, die sie stellen wollen. Stets ist es dieselbe: „Wie steht ihr?“Aber sie bleibt unausgesprochen und nur ein Zwinkern der Augen, ein Nicken, eine schwache Handbewegung sind die Antwort auf die stumme Frage.
In den vorgeschrittenen Nachtstunden macht sich bei den Spielern wohl bereits eine gewisse Mattigkeit bemerkbar, aber sie harren aus, kämpfen weiter, bis die letzte Karte ausgespielt ist. Da sitzt an einem Mitteltisch ein Holländer, ein großer, breiter Herr, ihm gegenüber sein viel jüngerer Mitspieler, der in Gestalt und Spielauffassung sein gerades Gegenteil ist. Ist es unheimliches Ruhe, mit welcher der Holländer lizitiert, sein Spiel spielt, so merkt man seinem Teamkollegen eine gewisse Erregung, eine steigende Nervosität, Furcht vor einem falschen Ausspielen recht deutlich an. Seine Finger trommeln nervös auf der Fläche des Kartentisches, der Aschenbecher zeigt einen Haufen von halbgerauchten Zigaretten.
(…) Oesterreichs Vertreter spielen viel leichter, phantsasiereicher, nicht schulmäßig. Und wenn ihnen auch die starre Schule manchmal einen Strich durch die fein ausgeklügelte Rechnung macht, so gibt die Mehrzahl ihrer Erfolge ihnen doch recht. Um 2 Uhr ist Schluß. Die Krieger verlassen das Schlachtfeld, um sich schon ein paar Stunden später zu den Schlußspielen dieser Runde wieder einzufinden.
Doktor Dollfuß ist kein Kampfhahn
Der Bundeskanzler reist nach Lausanne.
Neue Freie Presse am 21. Juni 1932
Der Bundeskanzler will kein Mittel unversucht lassen, um die Anleihe zu fördern. Er vertraut auf die Wirkung lebendiger Gegenwart, er ist der Meinung, daß er als Chef der österreichischen Regierung in die erste Feuerlinie gehöre, da die Entscheidung fallen soll. Es ist nicht unsere Sache, etwa Meltau aus solche Erwartungen zu gießen. Wir halten es vielmehr im Augenblick großer internationaler Verhandlungen. Für die Pflicht der Gesamtheit in Reih und Glied zu stehen, solange bis die Resultate deutlich geworden sind und die Kritik ansetzen muß.
Der Kanzler kennt die Kräfteverhältnisse im österreichischen Parlament; er weiß, was durchführbar ist und was nicht, man hat ihn keineswegs darüber in Zweifel gelassen, wie die Parteien eingestellt sind.
Der Präsident der Nationalbank Dr. Kienböck ist heute formell entrückt dem parlamentarischen Markte; Sektionschef Schüller war immer Beamter, und so hat das Wort des Regierungschefs und des Technikers der Politik noch größeres Gewicht als die Argumente der beiden Delegierten, seien sie auch noch so tief fundiert und der Wahrhaftigkeit entsprechend.
Bundesminister Dr. Dollfuß wird zu gleicher Zeit auch darauf hinweisen, er sei keineswegs ein Mann der Einseitigkeit, ein Kampfhahn, ein Schreckgespenst für seine Gegner. Er hat eine so kühle und dünne Luft um sich verbreitet, daß niemand ihn selbst als eine Quelle der Zwistigkeiten betrachten kann. Er wird also in Lausanne nicht bloß die fremden Regierungen darüber unterrichten, was die Christlichsozialen und ihre unmittelbarsten Verkündeten wünschen, seine Meinungsäußerung wird nicht den Charakter der Tandenz annehmen, sondern Dr. Dolfuß wird nur jene Lösung empfehlen, die ohne Erdbeben zu erzielen ist.
In dreifacher Hinsicht wird Dr. Dollfuß auf die fremden Mächte einwirken. Die Wiederholung einer Deklaration über den Anschluß, so wird er wohl den fremden Staatsmännern sagen, könnte nur die Pläne schädigen, die mit der Anleihe selbst verbunden sind. Denn Deutschland würde die Konsequenzen ziehen, es würde die Teilnahme an der Anleihe kündigen und dann würden die Großdeutschen sofort der Regierung ihre Hilfe verweigern.
Der Wahnsinnige neben dem Flugzeugpiloten
Als Folge eines Flugzeugabsturzes in Großbritannien soll bei künftigen Flügen kein Passagier, Beobachter oder Beamter das Recht haben, neben dem Flugzeugführer Platz zu nehmen.
Neue Freie Presse am 20. Juni 1922
Wie unser Londoner Korrespondent meldet, teilen die "Sunday Times" mit, daß durch einen Regierungserlaß ausdrücklich angeordnet wurde, daß bei künftigen Flügen kein Passagier, Beobachter oder Beamter das Recht haben solle, neben dem Flugzeugführer Platz zu nehmen. Dieser Erlaß erfolgte wegen der Feststellung, daß der Führer des vor einigen Tagen in den Kanal gestürzten Flugzeuges von einem verrückten Passagier während des Fluges erschossen wurde.
In der Sonntagsnummer des "Echo de Paris", die durch den französischen Luftdienst bereits heute in Wien eingetroffen ist, finden wir Einzelheiten über den tragischen Unfall, der zu dem erwähnten Regierungserlaß geführt hat. Am 3. d. ist ein Luftzeug, das auf der Strecke London-Paris Dienst machte, bei Folkestone aus einer Höhe von 1600 Metern in den Kanal La Manche gestürzt. Zwei Leichen wurden geborgen. Die des Piloten, des Aviatikers Morin, und die des Passagiers Doktor Lee, der neben ihm gesessen war, während die Leiche des zweiten Passagiers, eines Herrn Caroll, bisher nicht aufgefunden werden konnte. Der Apparat war vor der Abfahrt sorgfältig geprüft und als tadellos befunden worden.
In Aviatikerkreisen erhält sich das Gerücht, daß Morin das Opfer eines Wahnsinnigen geworden sei. Während der Pilot seine Aufmerksamkeit auf den Horizont gelenkt hatte, habe ihm der neben ihm sitzende Dr. Lee in einem Irrsinnsanfall eine Revolverkugel in den Kopf gejagt. Es wird auch behauptet, daß bei der Totenbeschau in Folkestone im Schädel des Unglücklichen die Kugelspur konstatiert worden sei. Von anderer Seite wird dem allerdings widersprochen und die Version verbreitet, daß der Unglückliche den Schädel vollständig zertrümmert hatte und daß daher keinerlei Feststellungen möglich waren. Dr. Lee soll sich zweifellos in einem Zustand furchtbarer Erregung befunden und angeblich vor der Abreise geäußert haben, er begebe sich nach Trouville und von dort nach Lausanne, wo er eine bestimmte Frau töten müsse. Die Untersuchung in dieser mysteriösen Angelegenheit ist noch nicht abgeschlossen.
Der katastrophale Orkan auf Long Island
Wo noch vor kurzem ein heiterer Sommerhimmel blaute, hatten sich plötzlich tintenschwarze Wolken zu dichten Massen geballt.
Neue Freie Presse am 19. Juni 1922
Ueber den katastrophalen Orkan, der wie gemeldet, am 11. Juli Newyork heimsuchte und neben Hunderten von Schwerverwundeten an 60 Todesopfer forderte, melden englische Blätter: Der Sturm brach aus, wie ein Blitz aus heiterem Himmel niederfährt, und fuhr über die Zehntausende, die sich in den Parks von Long Island ahnungslos fröhlichem Sonntagsvergnügen hingaben. In wenigen Minuten waren ganze Strecken verwüstet.
Vom Süden aufspringend, folgte der entsetzliche Sturm mit erschreckender Schnelligkeit über Westchester und Long Island gegen den Norden und Osten von Newyork, wo die meisten Spielplätze der Stadt liegen. Wo noch vor kurzem ein heiterer Sommerhimmel blaute, hatten sich plötzlich tintenschwarze Wolken zu dichten Massen geballt, nur einige hundert Fuß über dem Erdboden; unterhalb derselben wälzten sich schmutziggelbe Dämpfe dahin, während als Vorboten des Sturmes Ballen von Staub und Schutt aller Art über die Fläche gefegt wurden. Aus dieser unheimlichen Masse züngelten flammende Blitze, oft drei oder vier zu gleicher Zeit, unmittelbar gefolgt von ohrenbetäubendem Donnergekrache. Große Bäume wurden entwurzelt und wie Federn durch die Luft geschleudert, fielen zum Teil auf Häuser oder Automobile nieder, deren Insasses sie zu Brei zerdrückten.
Die Telephon- und Lichtkabel wurden zerrissen und über weite Gebiete der Telephon- und Telegraphendienst ausgeschaltet, die elektrischen Licht- und Kraftströme unterbrochen. Allein drei Personen wurden durch Berührung der Hochspannungsdrähte getötet. Gut die Hälfte der Todesopfer forderte der Sturm in Long Island-Sund. Als der Sturm nämlich das Wasser aufpeitschte, war seine Oberfläche mit Hunderten von Booten bedeckt, die nun umkippten und zu Dutzenden sanken. Küstenwache, Polizei und freiwillige Helfer der Jachtklubs griffen wohl sofort ein und arbeiteten ungeachtet des wütenden Wetters durch Stunden an der Rettung der vielen Frauen, Männer und Kinder, nach Einbruch der Dunkelheit mit Hilfe von Fackellicht, konnten aber vielfach nur Leichen bergen. Etwa zwanzigtausend Menschen, darunter sehr viele Fremde, erlustigten sich auf Long Island, als der Sturm ausbrach. Von seiner schrecklichen Gewalt zu Tode erschreckt, von Entsetzen gepackt durch die gelben Flammen der Blitze, betäubt durch das Krachen des Donners, verlor die Menge jede Kontrolle über sich, stürzte sich in wilder Panik nach allen Richtungen, wobei natürlich sehr viel zu Tode getreten wurden.
Die zweitgrößte Zahl an Opfern forderte der Orkan auf Manhattan Island, wo ein "Riesenrad" von etwa 100 Fuß im Durchmesser mit etwa fünfzig Personen in den Aussichtswagen gerade in Bewegung war. Wie ein Kinderspielzeug vom Sturmwind erfaßt und in die Höhe gehoben, wurde das Riesenrad an den Strand geschleudert und zerschellt. Sieben Personen waren sofort tot, dreißig schwer verletzt. Entsetzlich waren die Verwüstungen in den verschiedenen Vorstädten Newyorks und in der City selbst, wo vierzehn Tote in einem einzigen Spital aufgebahrt wurden. Sehr hart mitgenommen wurde auch das schöne Morristown in New-Jersey, berühmt ob seiner herrlichen alten Bäume, die zum Teil aus der Zeit der Revolution stammen. Zu Dutzenden wurden diese Prachtexemplare aus dem Boden gerissen und auf Häuser geschleudert, die sie im Niederfallen zerschmetterten. All diese traurige Zerstörung war das Werk kaum einer halben Stunde. In manchen Teilen raste der Sturm auch so lange, über andere fegte er rasch dahin, Tod und Verwüstung zurücklassend. Auf dem Höhepunkt betrug seine Schnelligkeit zwischen 88 und 100 Meilen die Stunde.
Sympathie für den Sprengstoffattentäter
Sylvester Matuschka wird zu sechs Jahren verschärften Kerker verurteilt. Das Publikum findet die Strafe hoch.
Neue Freie Presse am 18. Juni 1932
Schuldig und zu sechs Jahren schweren, verschärften Kerkers verurteilt, lautet der Spruch des Schöffengerichtes. Zwei Fasttage, zwei harte Lager jährlich, jedesmal am Jahrestag der Anschläge von Anzbach.
Wie Matuschka nach der Beratung hereingeführt wird, schaut er unsicher zum Vorsitzenden hin, dann ins Publikum. Er grimassiert, er zieht das Taschentuch, scheint nicht darauf vorbereitet, daß schon der Schluß da ist, das Ende des Prozesses. Er hört gar nicht recht auf das Urteil. Interessiert es ihn nicht? Warum schaut er denn immerzu in die Bänke nach rückwärts in den Saal, der jetzt mit Menschen überfüllt ist? Der Vorsitzende spricht doch eben die Strafe aus.
Matuschka drückt die Augenlider zusammen und blickt nun begierig auf die Leute im Auditorium. Von ihnen her wird ein scharfer S-Laut hörbar, ein Mißfallenszeichen, das man so auslegen muß, daß dem Publikum die Strafe zu hoch ist. Möglich auch, daß viele trotz der mit großem Nachdruck abgegebenen Sachverständigengutachten den Angeklagten nicht für verantwortlich, sondern doch für einen Irren halten. Matuschka haftet mit den Augen an den bewegten Leuten, lächelt entzückt in den Saal hinein, überschwänglich, geschmeichelt. Er freut sich, daß die Leute für ihn sind. Es scheint ihm wichtiger als die Prozeßentscheidung, als das Urteil, mit dem er verdammt wird, sechs Jahre im Zuchthaus zu sitzen. Und auch noch wie er sich dann niederläßt auf die Anklagebank, halb abwesend, ganz mechanisch, hat er nur dankbare Blicke für den Saal, von dem er sich nicht abwenden will.
Plötzlich wechselt dann der Ausdruck, die zugekniffenen Augen öffnen sich, während er den Kopf nervös hin und her bewegt. Natürlich, gleich wird es ganz aus sein. Man führt ihn hinaus, die Lichter werden abgedreht, die Leute gehen fort, seine Rolle ist zu Ende. Er wird nicht mehr sprechen, man wird ihn nicht mehr fragen, nicht mehr werden Hunderte atemlos auf ihn horchen, er wird sich nicht mehr hören und die Wirkung dessen genießen, was er mit schmetternder Stimme dem Parkett des Gerichtssaales vorphantasiert. Gleich wird es unerträglich still um ihn her sein. Denkt er daran? Im abendlich schlecht beleuchteten düsteren Gefängnisgang wird er stehen, wo es nur Schlössergeräusch und Schlüsselgeklirr gibt, schon jetzt eine Sensation von gestern, ausgelöscht. Matuschka spürt: in den nächsten Minuten ist es mit seiner Resonanz zu Ende. Was wird er ohne Resonanz sein? Hinter Mauern wird er stecken. Sechs Jahre lang.
Anmerkung: Sylvester Matuschka war ein ungarischer Eisenbahnattentäter. Im Dezember 1930 verübte er bei Anzbach, westlich von Wien, einen Anschlag, der folgenlos blieb. Im Jänner 1931 führte er dann einen zweiten Anschlag in Anzbach durch, auch hier entstand nur geringer Schaden, obwohl die Lokomotive des Nachtschnellzugs entgleiste. Ein Jahr später, im August 1931, sprengte er nahe Berlin ein Stück Schienen aus dem Gleis, woraufhin ein Zug entgleiste. Es gab vier Schwerverletzte und rund 50 Leichtverletzte. Nur einen Monat später verübte er in Ungarn ein folgenschweres Attentat, bei dem zwölf Wagen des Nachtschnellzugs Budapest-Wien in einen Talgrund stürzten. Es gab 22 Tote, 17 Schwerverletzte und viele Leichtverletzte.
Im Oktober 1931 wurde Matuschka in Wien verhaftet, weil er Schadenersatz forderte - als angeblicher Fahrgast des verunglückten Zuges. Bei der folgenden Gerichtsverhandlung machte Matuschka einen verwirrten Eindruck. Nachdem er vier Jahre seiner Strafe verbüßt hatte, wurde er nach Ungarn ausgeliefert, wo er zum Tode verurteilt wurde. Allerdings wurde er zu einer lebenslangen Haftstrafe begnadigt - das war Auslieferungsbedingung Österreichs an Ungarn. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs galt er offiziell als verschollen, wilden Gerüchten zufolge soll er im Korea-Krieg für die Kommunisten Sprengstoffanschläge verübt haben.
Ein bissiger politischer Gegner
Ein sonderbarer Vorfall in Ungarn.
Neue Freie Presse am 17. Juni 1932
Aus Budapest wird gemeldet: Eine sonderbare Art, politische Gegensätze auszutragen, hat der Vorstand der Achtundvierziger-Partei in dem ungarischen Orte Szentes, Josef Balint, gewählt.
Er hatte sich mit seinem politischen Antipoden, dem Vorstand der unabhängigen kleinen Landwirte Josef Ornyik, mit dem er bei einem gemeinsamen Freund zu Gaste war, in einen erregten Disput verwickelt, in dessen Verlauf er auf Ornyik zusprang und ihm mit drei Bissen das linke Ohr abtrennte. Ornyik wurde ins Spital gebracht. Gegen Balint wurde das Verfahren eingeleitet.
Gegen eine Politik der Erpressungen
Glaubt man wirklich, eine passive Volkswirtschaft, in welcher zu wenig gearbeitet wird und wo die wesentlichen Grundsätze richtiger ökonomischer Lebensführung nicht durchgeführt werden können, durch eine Diktatur des Proletariats zur Heilung zu bringen?
Neue Freie Presse am 16. Juni 1922
Die Geschichte der Republik Oesterreich verzeichnet einen neuen Krisentag. Am Dienstag, so teilt das Organ der sozialdemokratischen Partei mit, sprachen die Abgeordneten Seitz, Bauer, Breitner, Domes, Eldersch und Tomschitz beim Bundeskanzler vor. Sie legten ihm dar, daß die Stimmung der Massen auf das höchste erbittert, ihre Geduld zu Ende sei. Sie fügten hinzu, daß, wenn der Valutenhausse nicht Grenzen gesetzt werden, die Lebensmittel-, Rohstoff- und Kohlenversorgung in ernste Gefahr geraten müsse. Man könne doch nicht wegen Mangels an Valuten verhungern, obwohl Valuten genug im Lande seien. Die Regierung solle die Valuten anfordern. Könne sie sich dazu nicht entschließen, dann müsse sie eben irgendein anderes Mittel finden, die aufgehamsterten Valuten, vor allem jene, die in den großen Banken liegen, herauszulocken. Geschehe das nicht, dann sei die wirtschaftliche Katastrophe unvermeidlich und niemand könne die Verantwortung dafür übernehmen, in welcher Weise sich die Verzweiflung und Erbitterung der Massen ausdrücken werden. Der Artikel schließt mit der Ankündigung, das ganze Bürgertum und seine Bankdirektoren mögen verstehen, welche Verantwortung jetzt auf ihnen laste und wohin sie das Scheitern dieses Rettungsversuches unweigerlich führen müßte. Ihre politische und ihre ökonomische Existenz, so heißt es wörtlich, ist jetzt an das Gelingen dieses Versuches geknüpft. Scheitert der Plan, dann wäre der Beweis experimentell erbracht, daß es keine Lösung mit bürgerlichen Mitteln mehr gibt.
Man möge uns gefälligst erklären, was diese Drohungen zu bedeuten haben. Oesterreich ist in einer Lebensgefahr, welche die Grundfesten des Staates erschüttert. Der Friede von Saint-Germain hat uns Arme und Füße abgehackt. Die Koalitionsregierung, an welcher die Sozialdemokraten führend teilgenommen haben, hat während zweier Jahre nicht den Finger gerührt, um einen Finanzplan zu schaffen, das damals zwerghafte Defizit mit raschen Griffen zu beseitigen und den Geldwert, der damals fünfzigmal so hoch war als gegenwärtig, vor tödlichen Schlägen zu bewahren. Die Regierung, an deren Spitze die Führer der Sozialdemokratie gestanden sind, hat kein anderes Auskunftsmittel gewußt als die zum demagogischen Schlagwort gewordene Vermögensabgabe, die mit solcher Unfähigkeit ins Werk gesetzt wurde, daß sie zum Gespött für jeden Wissenden geworden ist. Die Forderung nach Ersparnis, nach innerer Anleihe, nach Errichtung einer Notenbank, nach Reinigung des Budgets von den Verschwendungsposten ist höhnisch belächelt worden und wurde mit systematischer Gleichgültigkeit behandelt.
Was heute in Oesterreich geschieht, es ist nichts anderes als die Folgeerscheinung der Finanzpolitik der Koalition und der Finanzpolitik des Ministers Gürtler, der bis kurz vor seinem Untergang mit Dr. Bauer Bruderküsse tauschte. Sozialdemokratisch war das Anmeldungsgesetz, das die fremden Valuten wie eine Windsbraut vom Markte vertrieb, sozialdemokratisch das Bankenumsatzsteuergesetz, das die Inflation gesteigert und die Entvölkerung des Marktes noch vergrößert hat. Glaubt man wirklich, eine passive Volkswirtschaft, in welcher zu wenig gearbeitet wird und wo die wesentlichen Grundsätze richtiger ökonomischer Lebensführung nicht durchgeführt werden können, glaubt man wirklich, einen kranken Körper durch äußerliche Maßregeln, durch Roßkuren, am Ende gar durch eine Diktatur des Proletariats zur Heilung zu bringen? Wir glauben gerne, daß es den Sozialisten möglich ist, die Gewalt zu ergreifen. Wir möchten es ihnen nur empfehlen, dies so rasch als möglich zu versuchen, damit sie den vollkommenen Zusammenbruch ihrer Herrschaft und die völlige Katastrophe ihrer Finanzpolitik mit tunlichster Beschleunigung erleben.
Das Auslagefenster als Zeitspiegel
Wenn irgendwo in Wien eine Menschenansammlung sich voll aufgeregter Spannung staut und den gierigen Blick nicht von einem Auslagenfenster zu wenden vermag, dann ist es sicherlich die Offenbarung der neuesten Börsenkurse.
Neue Freie Presse am 15. Juni 1922
Ein bescheidener Vorschlag, der Rettungsgesellschaft oder sonst einem notleidenden Humanitätsinstitut dediziert! Man bringe Sparbüchsen zur Verteilung, die überall dort aufgestellt werden mögen, wo einige Leute in geselliger Absicht zusammenkommen. Diese Büchsen sind zur Aufnahme von Strafgeldern bestimmt, die jeder zu entrichten hat, der das Wort "Valuta" in den Mund nimmt. Die Statistik, die gegenwärtig so viel zu unser aller Erbauung beiträgt, der wir es zu verdanken haben, wenn wir darüber mit wünschenswerter Genauigkeit unterrichtet sind, um wie viel Prozente sich unsere Lebenshaltung seit dem Vormonat wieder verteuert und verschlechtert hat, um wie viel Löcher wir den Hungerriemen enger zu schnallen verpflichtet sind, läßt uns einigermaßen im Stich, wenn wir die vorwitzige Frage stellen, welches Wort gegenwärtig in Wien am öftesten ausgesprochen wird. Aber wer ist läppisch und weltfremd genug, danach zu fragen? Das weiß man ohnehin. Und ebenso bekannt ist, daß jenes ominöse Wort vor gar nicht allzu langer Zeit im Sprachschatz des Durchschnittsmenschen überhaupt nicht vorkam. Man fand sein sprachliches Auskommen eben ohne Valuta.