Buch der Woche

Khaled Khalifa: Wir sehen uns in Aleppo

Der syrische Autor Khaled Khalifa führt uns mit seinem Epos „Keiner betete an ihren Gräbern“ in die Vergangenheit Syriens und stellt bei aller Erzählfreude ernste Fragen: Wie lebt es sich unter ständiger Bedrohung durch Krieg, Fundamentalismus, Naturkatastrophen?

Der Fluss schwillt an. Binnen weniger Stunden steigt das Wasser und steigt, verschluckt Menschen und Häuser und Vieh: auch Josefine und das Baby. Sie habe ihren Sohn mit aller Kraft festgehalten, sei mehrmals untergegangen und wieder aufgetaucht, habe ihre Hand in die Luft gestreckt und sich dann „in einen Leichnam verwandelt“, so erzählt es Marjana dem Ehemann Josefines, Hanna. Der war nicht da, als das Unglück passierte. Er hat sich wie so oft in der nahen Zitadelle vergnügt – mit Freunden und Wein und Prostituierten. Jetzt blickt Hanna aus dem Fenster, sieht nur Schlamm und Schmutz: „Der Fluss, den er so gut kannte, floss dahin wie seit Urzeiten, so sanftmütig und ruhig, als hätte er nichts getan. Auf der Wasseroberfläche glitzerte die Sonne wie goldene Lirastücke.“

So beginnt „Keiner betete an ihren Gräbern“, das Epos des syrischen Autors Khaled Khalifa, der in Aleppo geboren ist und trotz des Verbots seiner Bücher immer noch in Damaskus lebt. Es spielt zwischen 1880 und 1950 und erzählt spannungsreich und fabulierfreudig die Geschichte mehrerer Familien in und um Aleppo, die leben und lieben, verarmen oder Vermögen anhäufen, sich zerstreiten und Allianzen schmieden – und die dabei Katastrophe um Katastrophe durchmachen. Da ist die Überschwemmung von 1907 im nahen Dorf nur eine von vielen: Hannas Familie fällt nach einem Ehrenmord einem Massaker zum Opfer, der Bub muss zusehen, wie der erschlagene Vater durch die Gassen geschleift wird. Als die herrschenden Osmanen in den Krieg ziehen, sterben die Einwohner Aleppos wie die Fliegen – die jungen zwangsrekrutierten Männer auf dem Schlachtfeld; Alte, Kinder und Frauen an Hunger und Epidemien. Ein Mädchen verliert Eltern und Geschwister beim Völkermord an den Armeniern.

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