Phänomen

Frivol, leicht, tanzbar: Die fröhliche Welt der Sommerhits

Der Lambada schaut gut aus, ist aber entgegen anderen Sommerhittänzen alles andere als leicht zu tanzen.
Der Lambada schaut gut aus, ist aber entgegen anderen Sommerhittänzen alles andere als leicht zu tanzen.
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Die Tradition der Sommerhits geht auf die 1950er-Jahre zurück. Einfache Melodien und exotische Rhythmen gehören zur Grundformel dieses Musikformats.

Heiß ist es. Wahnsinnig heiß. Diese Hitze des Sommers wirkt sich auf mehrerlei Weise auf den Menschen aus. Etwa, indem sie die Blutgefäße erweitert und das Herz zwingt, schneller zu schlagen. Trotz dieses Mehraufwands, funktioniert nicht mehr alles im gewohnten Umfang. Das Gehirn etwa drosselt wegen verminderter Sauerstoffzufuhr ganz frech die Leistung. Das hat Folgen. Soziale wie kulturelle.

Im Sommer hört man anders, hat andere Vorlieben. Manch einer rätselt im nebeligen November darüber, warum diese oder jene Nummer im August besonders gut eingefahren ist. Die erfolgreichen Lieder der warmen Jahreszeit bestechen durch Simplizität und eine gewisse Exotik. Erst recht Sommerhits – sie sind aus Tradition recht kalorienarm. Allein deshalb tragen deren Sängerinnen und Sänger ganz selten Bauch. Dieser wäre schließlich ein Hindernis, beim Verführungswerk, das zuweilen leicht melancholisch, dann aber auch wieder mit reuelosem Ungestüm exekutiert wird.

Das zwingt die Interpreten zu manch Balanceakt: In den meist erotisch aufgeladenen Texten müssen eheliche und außereheliche Kraftproben mit Feinsinn in Schwebe gehalten werden. Die Vokalist(innen) müssen zugleich sexy und sensitiv sein, schließlich darf so ein Sommerhit alles, nur nicht die Seele schinden. Er muss ein Begehren aufbauen, das trotz hoher Temperaturen auf kinetische Umsetzung besteht. Mit anderen Worten: Dem Sommerhit steht im Idealfall synchron ein neuer Tanz zur Seite.

Unschuldige Anfänge. Das Phänomen Sommerhit entstand in den Fünfzigerjahren, als die wirtschaftlichen Krisen, die der Zweite Weltkrieg ausgelöst hat, so weit überwunden waren, dass sich für breite Bevölkerungsgruppen der viel zitierte „bescheidene Wohlstand“ eingestellt hat. Die Anfänge waren recht unschuldig. Lieder mit „Summer“ im Titel, etwa der „Summertime Blues“ des Rock 'n' Rollers Eddie Cochran, entwickelten sich zum Millionenseller.



Dem erst 16-jährigen US-Sänger Brian Hyland glückte 1960 der erste globale Sommerhit, der es auch auf Platz eins der US-Charts schaffte: „Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini“ enterte auch in Großbritannien und Deutschland die Top Ten. Getextet hat den Song ein gewisser Paul Vance, der damit seiner damals zweijährigen Tochter und ihrem gelb gepunkteten Bikini ein Denkmal setzte. Dieser sogenannte Novelty Song (humorvoller Unsinn) löste einen Verkaufsboom für die damals noch gar nicht populäre, knappe Badebekleidung aus. Das Lied kam übrigens auch in Billy Wilders Komödie „Eins, zwei, drei“ zum Einsatz: Ein vermeintlicher Spion wird durch permanentes Vorspielen des Songs vom Schlaf abgehalten, um ihn so zu einem Geständnis zu zwingen.

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Deutscher Sprachraum. Das Deutschland der Wirtschaftswunderjahre macht auch bald gute Geschäfte mit Fernweh- und Exotikschlagern. Freddy Quinn stilisiert sich als einsamer Held auf den Weltmeeren und in der Fremdenlegion. Der Mann, der hauptsächlich in der winzigen Hamburger Washington Bar auftrat, hatte mit „Heimweh“ 1956 einen ersten großen Hit. Über acht Millionen Stück verkaufte er von dieser Single. Es folgten Klassiker wie „Unter fremden Sternen“, „Junge, komm bald wieder“, „Die Gitarre und das Meer“. Erotisch war nichts davon. Andere, wie die Kombo Club Indonesia, lockten die Damen mit Titel wie „Steig in das Traumboot der Liebe“.

Die polyglotte Belgierin Caterina Valente verlagerte das Sündige in die französische Hauptstadt. Guter Kunstgriff! „Ganz Paris träumt von der Liebe, denn dort ist sie auch zu Haus“, flötete sie schon 1954 im Schatten eines opulenten Streicher- und Bläserarrangements. Im Juli 1960 war sie auch fix und lancierte mit „Itsy Bitsy Tini Wini Honolulu Strandbikini“, der deutschen Version von Brian Hylands Smash-Hit, einen weiteren eskapistischen Klassiker. Ebenfalls Pionierin war sie, was die Interpretation brasilianischer Lieder aus den Genres wie Bossa nova und Samba anlangt. 1963 versuchte die Berlinerin Manuela in ihrem Hit „Schuld war nur der Bossa nova“, erotische Abenteuer der Exotik des Bossa nova zuzuschreiben.



In den Sechzigerjahren wurde das ferne Ausland zu einem paradiesischen Ort verklärt. Mit dickem Akzent singende Schlagerinterpreten von Connie Francis bis Bill Ramsey, von Mina bis zu Adamo ließen die Deutschen von einem freieren Leben, wenigstens im Urlaub, träumen.

Die Hitformel. In den Siebzigerjahren begannen Musiker und Produzenten damit, die Formel eines Sommerhits zu erforschen und strategisch zu nützen. Man analysierte präzise die Refrains, zählte Halbtöne und Akkorde, überlegte sich ideale Schrittkombinationen für die Umsetzung auf den Tanzflächen.

Dennoch klappte es kurioserweise fast nie mit den musikwissenschaftlich kalkulierten Songs. So ein Sommerhit kommt einfach durch die Katzenklappe oder die Oberlichte ins Haus und legt die Hörer flach. Oder er stellt sie mit lateinamerikanischen oder karibischen Rhythmen auf die Tanzfläche: Merengue, Salsa, Samba, Batucada, Reggae, Bossa nova, Reggaeton lockten schon aus manch bleichem Menschen ein hohes Maß an Sinnlichkeit hervor.

Im deutschen Sprachraum waren es zunächst Italianità, die bezirzten. Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger wurde der Lebensstil der Italiener als vorbildhaft angesehen. Die Sehnsucht galt einem Dolce Vita, zuweilen gar einem Dolcefarniente mit Pasta, Pizza, Vino und Cappuccino. Der Soundtrack dazu stammte von Paolo Conte, Lucio Battisti, Adriano Celentano, Mina und Gianna Nannini und vielen mehr. Exotismus der flacheren Art gab es vom Holländer Rudi Carrell. Seine, aus heutiger Sicht doch recht rhetorische, 1975 in Liedform gestellte Frage „Wann wird's mal wieder richtig Sommer?“ ist mit „Sobald es einen Sommerhit gibt“ zu beantworten.

Wann ist ein Hit ein Hit? Wer bestimmt, was als Sommerhit gilt? Der Markt? Die Musikkritiker? Gar eine Institution? Nichts von alledem. Zumindest nicht allein. Kaum jemals ist es einer etablierten Musikerin, einem legendären Musiker oder einer legendären Band geglückt, einen Sommerhit bewusst zu schreiben. Ausnahmen sind afrikanische Musiker wie Mory Kanté und Miriam Makeba, die mit einem herzlichen „Yeke Yeke“ oder einem aufmunternden „Pata Pata“ es schafften, unkonzentrierte Hörer zu träumenden Wesen umzurüsten, die bereit für Abenteuer auf fremden Kontinenten waren.

Sonst ist es meist leider der kleinste gemeinsame Nenner, der aus Liedern Gassenhauer macht, aber zuweilen glückt doch etwas raffinierteren musikalischen Szenarien der große, sommerliche Durchbruch.



Der French-House-Tune „Music Sounds Better With You“ war so eine feine Ausnahme, aber auch „Groovejet“ von Spiller, das von der Britin Sophie Ellis-Bextor gesanglich veredelt wurde. Von feiner Qualität waren auch Shakiras Sommerhits von „Hips Don't Lie“ bis „Waka Waka (This Time for Africa). Und „Tu Vuò Fá L'Americano“, ein uralter Swingjazz-Schlager von Renato Carosone erlebte über fünfzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung als „We No Speak Americano“ einen zweiten Sommer in der pumpenden Version der australischen Band Yolanda Be Cool & DCUP. Eine zweiten, sommerlichen Höhenflug erlebten 2019 hierzulande auch die Venga Boys mit ihrem „We're Going To Ibiza“. Der Grund dafür dürfte bekannt sein.

Übrigens, nicht jeder Hit, der im Sommer entsteht, zählt auch als Sommerhit. Denn die kommen rauschartig, fressen sich ein paar Monate ins Ohr und sind danach nur mehr in seltenen Fällen ertragbar. Das berühmte „Summer in the City“ von The Lovin' Spoonful – auch in seiner Version von Joe Cocker – etablierte sich etwa als Lied von Qualität, das jahrzehntelang hielt.

Der Charme der Einfachheit. „The Ketchup Song (Aserejé)“ von Las Ketchup ist wiederum von einer so irrwitzigen Einfachheit, dass er zwanzig Jahre nach seiner Veröffentlichung immer noch die Tanzflächen füllt. Auch Kate Yanais „Summer Dreamin'“, das in den Achtzigerjahren als Werbemusik für Campari eingesetzt wurde, ist von hoher Zeitlosigkeit.

Es braucht nicht nur ein wenig Alkohol, um diese Lieder wieder im Bewusstsein auferstehen zu lassen. So ein Sommerhit ist im Grunde ein alljährlich, fröhlich hingepinseltes Rufzeichen verlängerter Kindheit, das so manchen Grantscherben in zauberhafte Wesen verwandelt. Der richtige Sommerhit wird zur Brücke zu unbeschwerteren Seelenteilen in von Existenzkämpfen zerzausten Menschen.

Rätselhafte Worte aus fremden Sprachen befeuern die fidele Stimmung. Die Interpreten dieser Lieder, egal, ob weiblich oder männlich, punkten meist zusätzlich mit einem exotischen Touch. Das Publikum hat im Idealfall flexible Gliedmaßen. Denn zu abenteuerlichen Verrenkungen sollte man fähig sein. Richtige Sommerhits wie einst „Lambada“ und „Macarena“ lösten einen saisonalen Dance-Craze aus. Den in langwierigen Laborstudien entwickelten, stets ein wenig abwegig-lasziven Tanz muss man auch im Hochpromillebereich makellos beherrschen.

Tanzen im Sitzen. Gibt es auch Sommerhits für Sitztänzer? Unbedingt. Style Council haben mit „Long Hot Summer” einen herrlichen Nichtsommerhit geschaffen, der zum diskreten Fußwippen unter Tisch einlädt. Auch „Fat Old Sun“ von Pink Floyd kann nicht als herkömmlicher Sommerhit bezeichnet werden, wenngleich im Lied die Sonne trefflich als Dämon bezeichnet wird, die einen „silver sound from a time so strange“ hervorruft.

Die Hitze befördert im besten Fall auch erotischen Leichtsinn. „The sun was a demon, the clouds were afraid and the pavement was steaming.“ Mit der Beschreibung unheilvoller Hitze begann Bobby Goldsboro 1973 sein „Summer (The First Time)“. Das Thema war pikant. Eine reife Dame schleppt einen 17-Jährigen ab und vernascht ihn am Strand. „I know you're young, but stay with me until the sun has gone away, and I will chase the boy in you away“, flüsterte sie, tat ihr Verführungswerk und entschwand. Auch andere grübelten über die Auswirkung der Hitze aufs Paarungsverhalten. Die bleichen Beach Boys waren sich 1965 einer Sache ganz sicher: „Summer Means New Love“. Die christlich sozialisierte Mädchensoulband Martha & The Vandellas sang sich 1963 in „Heat Wave“ die Verwirrung vom Herzen. „Could it be the devil in me or is this the way love's supposed to be?“.

Geeignet für Paare. Als Antidot gegen Lendenlahmheit dienten auch den letzten Jahren exotische Sommerhits wie „Despacito“, ein Gemeinschaftsprojekt der Puerto Ricaner Luis Fonsi und Daddy Yankee von 2017.

Wichtig ist ohnehin, dass so ein Sommerhit paartanzgeeignet ist. Wie „Lambada“ der Gruppe Kaoma, der 1989 in Paris veröffentlicht wurde, aber eigentlich ein Plagiat eines Songs der bolivianischen Band Los Kjarkas aus dem Jahr 1981 ist. So wie „Itsy Bitsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini“ beim Etablieren des Bikinis half, so schuf das Video von Kaomas „Lambada“ erhöhte Nachfrage für ein noch knapperes Textil: den Stringtanga. Für den so einfach aussehenden Tanz, der allerdings recht komplex aufgebaut ist – Körperisolation in drei Blöcken – ist es wohl die ideale Adjustierung. Die sinnlichen Bewegungen der Hüfte dürfen keinesfalls an den oberen Körperregionen abzulesen sein. Erotik ist manchmal wirklich harte Arbeit.

Geschichte

Anfänge. Das Phänomen der Sommerhits geht auf die 1950er-Jahre zurück. Zu den ersten Sommerhits zählt der „Summertime Blues“ von Eddie Cochran.

1960er-Jahre. Der erste globale Sommerhit gelang Brian Hyland 1960 mit dem „Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini“, der auch den Bikini berühmter machte.

1970er-Jahre. Karibik-Flair mixte sich in die Songs, und die Italo-Hits machten sich im deutschsprachigen Raum breit.

1980er- und 1990-Jahre. Von „Lambada“ über „Aserejé“ bis zu „Macarena“: Die Sommerhits werden von Tänzen begleitet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2022)

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