Mit Federn, Haut und Haar

Unser seltsames Gehirn: Evolution auf verschlungenen Wegen

Soziale Kompetenz und eine selbstbewusste Verortung in der Welt entstehen durch eine optimale Fürsorge in den ersten Lebensjahren in einer solidarischen Gesellschaft.

Seit Menschen über sich selber nachdenken, beschäftigt sie ihr widersprüchliches Wesen. Kein Wunder eigentlich, angesichts der Entstehung des menschlichen Gehirns in typisch evolutionärer Bastlermanier. Seine stammesgeschichtlich alten Teile beherbergen auch heute noch die lebenserhaltenden Funktionen und Antriebe, etwa im Dienste des soziosexuellen Verhaltens. Diese alten „Instinkte“ mischen immer noch kräftig mit, sei es als arttypische Ausdrucksweisen der Emotionen durch Mimik und Körpersprache, oder als dunkle Triebe, die sich etwa allzu oft in der soziosexuellen Gewalt gegen Kinder und Frauen zeigen.

Die Entstehung bilateralsymmetrischer Tiere vor etwa 600 Millionen Jahren führte zu einer Ansammlung von Sinnesorganen und Nervenzellen an deren Vorderpol. Bereits die Gehirne wurmartiger Wesen, wie der vor 555 Millionen Jahren im Schlamm lebenden Ikaria, mussten Geschlechtspartner finden und Fressfeinde vermeiden; sie verfügten daher über ein Bewertungssystem für förderliche und schädliche Reize, über ein Affekt- und Stresssystem, und konnten assoziativ lernen. Die Funktionen blieben nahezu unverändert in den basalen Hirnteilen des Menschen erhalten.

Vor 550 Millionen Jahren entstanden die ersten Wirbeltiere und damit das assoziative Vorderhirn, das Dach des Mittelhirns und das Kleinhirn. Diese Ausbauten ermöglichen Versuch-und-Irrtum-Lernen, Erwartung, Neugierde und die Orientierung in Raum und Zeit. Vor 220 Millionen Jahren kam Revolutionäres auf dem Weg zu den Säugetieren dazu: Die Nervensäulen der Hirnrinde – und damit die Fähigkeit, die Welt nicht nur wahrzunehmen, sondern durch Simulation vorherzusagen. Schließlich wurde vor wenigen Millionen Jahren innerhalb unserer engeren Primatenverwandtschaft die genial unspezialisierte Rechenfähigkeit dieser Nervensäulen immer stärker in den Dienst eines hochkomplexen Soziallebens gestellt. Als Grundlage für Kooperation, Gemeinwohlorientierung und Altruismus, aber auch für die egoistisch-machiavellistische Sicherung von Macht, wurde so die Fähigkeit ausgebaut, sich in andere einzufühlen und einzudenken.

Das Stirnhirn als modernster Teil unserer Hirnrinde ermöglicht die Bildung von Konzepten und bewusstes Denken, versucht die alten, oft dunklen Antriebe zu kontrollieren und über ein angemessenes Sozialverhalten zu wachen; wie gut ihm das gelingt, hängt von den genetischen Anlagen ab, und wie diese durch die Lebensweise der Vorfahren geprägt wurden. Vor allem aber entstehen soziale Kompetenzen und eine selbstbewusste Verortung in der Welt durch optimale Fürsorge in den ersten Lebensjahren und in Einbettung in eine inklusive, solidarische und partizipative Gesellschaft.

Welche der evolutionär angelegten Potenziale sich im Verhalten, in der Persönlichkeit und in den Einstellungen zeigen, hängt also beim sozialen und kognitiven Spezialisten Mensch vor allem von den sozialgesellschaftlichen Umwelten ab – der eigenen und jener der unmittelbaren Ahnen. Von Natur aus sind Menschen in ihren Potenzialen ebenso gut wie böse, ebenso egoistisch wie altruistisch. Ob sie zu Heiligen oder Massenmördern werden, hängt von vielen Faktoren ab. In zwei Wochen mehr zu den Umständen, die ein selbstbestimmtes, verantwortliches und zufriedenes Leben in gesellschaftlicher Wirksamkeit ermöglichen.

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