Festspiele Reichenau

Braucht „Die Möwe“ eine neue Form?

Die verpasste Liebe und eine tote Möwe: Nils Arztmann als Konstantin, Paula Nocker als Nina.
Die verpasste Liebe und eine tote Möwe: Nils Arztmann als Konstantin, Paula Nocker als Nina.(c) Jan Frankl
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Torsten Fischer bürstet Anton Tschechows Tragikomödie gegen den Strich: Anfangs ziemlich didaktisch, zuweilen ungewohnt flott und schließlich gar melodramatisch. Das Ensemble spielt mit Herzblut.

Anton Tschechow lässt seine tragische Komödie „Die Möwe“ mit einem weniger exzentrischen Paar als dem der Protagonisten beginnen. Es setzt die Grundstimmung: Der unzufriedene Lehrer Medwedenko bemüht sich um die frustrierte Mascha, die in einen anderen verliebt ist. Sie kommen von einem Spaziergang im Park des Gutes Sorin zurück. Im Hintergrund liegt der See, der Blick darauf ist laut Anweisung im Text durch eine Bühne versperrt. „Warum gehen Sie immer in Schwarz?“, fragt Medwedenko. Die Antwort: „Aus Trauer um mein Leben. Ich bin unglücklich.“

Nach ihnen betritt der tragische Held, für den Mascha schwärmt, die Bühne: Konstantin Gawrilowitsch Treplew, Sohn der kaprizierten Schauspielerin Irina Nikolajewna Arkadina, in Begleitung seines Onkels, Pjotr Nikolajewitsch Sorin. Der Alte räsoniert über sein versäumtes Leben, der Junge fiebert der Aufführung seines Stücks entgegen, in dem Nina Michailowna Sarjetschnaja ihr Debüt geben wird. Konstantin liebt sie, das Mädchen drängt zum Theater. Bald wird sie ihn verraten und ein Verhältnis mit dem Geliebten seiner Mutter anfangen, dem erfolgreichen, aber vielleicht nur mäßigen, konventionellen Autor Boris Alexejewitsch Trigorin. Ihm wird Nina ins ferne Moskau folgen, als Schauspielerin wird sie scheitern.

„Weiberwirtschaft!“, sagte der Alte

Es ist also eine alte Geschichte, die der profunde russische Seelenkenner 1896 in vier Akten auf die Bühne gebracht hat. Behutsam und beiläufig führt Tschechow Ennui und Agonie im Abendrot des Zarenreichs vor, er spart lang an Knalleffekten. Torsten Fischer lässt sich nicht so viel Zeit bei seiner Inszenierung, mit der am Samstag die erste Saison der Festspiele Reichenau unter der Intendanz von Burgschauspielerin Maria Happel eröffnet worden ist. Er setzt auf Verknappung, wie Bühnenbildner Herbert Schäfer: kein See, sondern nur der Nebel darüber. Fahl erscheint ein riesiger Vollmond. Kein Park, keine Bühne auf der Bühne, sondern eine Spiegelwand. Diagonal gestellt, zeigt sie Verdoppelungen, Reflexion und Selbstreflexion.

Begonnen wird rasant. Konstantin (Nils Arztmann) stürmt mit Nina (Paula Nocker) auf die Bühne. Ob sie Angst habe, fragt er. Vor dem Krieg? Dem Leben? Sie verneint. „Ich liebe dich!“ Schon tauchen hinten die übrigen Protagonisten auf. Konstantin wendet sich an das Publikum, stellt sich und andere vor. Diese didaktische Übung wird von Sorin (Martin Schwab) fortgesetzt. Er geht ins Publikum, bietet Kirschen an, mischt Originaltext mit Varianten und Aktualität. Happel habe nun in Reichenau das Sagen: Weiberwirtschaft! Dann spricht auch Arkadina (Sandra Cervik) die Besucher an. Eine Diva. „Wir brauchen neue Formen!“, fordert ihr Sohn von den Zusehern für sein Stück auf der Bühne und von jenen im Saal. Armer Ödipus! Seine Mutter wird ihm die Schau stehlen, sein Stück zum Fiasko geraten lassen.

Die Regie aber hat Konstantins Innovationsgeist ernst genommen und die alte Form des Beiseitesprechens für Tschechow neu aufbereitet. Es fehlte nur, dass ein eleganter, spitzbärtiger Russe im Parkett aufspränge und erklärte, was er damit eigentlich gemeint habe. Was man in Reichenau erlebt, ist vor der Pause der rund zweieinhalbstündigen Aufführung eine flotte, reizvolle Verfremdung, danach eine weniger gelungene Melodramatisierung, wenn man sie mit subtilen Inszenierungen wie etwa von Luc Bondy oder Jürgen Gosch vergleicht.

Weniger ist nicht immer mehr. „Die Möwe“, diese Studie über das Streben nach Glück, braucht nämlich qualvoll viel Zeit zur Entwicklung. Dann versteht man, warum dieses Symbol für das Abheben vom Protagonisten mutwillig geschossen und von einem Banausen dann auch noch ausgestopft wird.

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