Analyse

Österreichs Sehnsucht nach politischer Renaissance

Christian Kern war von Mai 2016 bis Mai 2017 Kanzler. Heute ist er in der Energiewirtschaft tätig und mahnt von der Politik Handeln ein.
Christian Kern war von Mai 2016 bis Mai 2017 Kanzler. Heute ist er in der Energiewirtschaft tätig und mahnt von der Politik Handeln ein.(c) Getty Images (Thomas Kronsteiner)
  • Drucken

Die Spekulationen um einen Antritt von Ex-Kanzler Kern zeigen, wie sehr politischer Paradigmenwechsel gewünscht wird. Das Vertrauen in die Politik ist momentan niedrig wie nie.

Wien. „Es kann sich keiner vorstellen, dass jemand ein inhaltliches Anliegen hat und nichts werden will – was für mich ausdrücklich gilt. Weder in einer neuen Partei noch in der SPÖ“, sagte Ex-Kanzler Christian Kern in einem Interview in der „Kronen Zeitung“ dieses Wochenende. Und räumte damit mit den hartnäckigen Spekulationen auf, dass er in die Politik zurückwill.

Dabei wären seine Chancen gut gewesen. Nach „Kronen Zeitung“-Sonntagsumfrage würden 20 Prozent eine von Kern geführte Partei wählen. Damit liegt Nehammer nur einen und Rendi-Wagner zwei Prozentpunkte vor ihm – alles innerhalb der Schwankungsbreite. Das öffentliche Interesse an einem Kern-Neustart zeigt vor allem auch eines: die immer größere Sehnsucht Österreichs nach politischer Erneuerung.

Ein Land ohne Vertrauen

Demokratiepolitisch liegt in Österreich schon seit einiger Zeit vieles im Argen. Das zeigte etwa der zum Jahreswechsel präsentierte Demokratiemonitor des Instituts Sora: Das Systemvertrauen der Befragten war auf dem tiefsten Punkt seit Erhebungsbeginn. Demnach waren sechs von zehn Menschen davon überzeugt, dass das politische System in Österreich weniger oder nicht gut funktioniert. Das Vertrauen ist in allen Bevölkerungsgruppen gesunken. Diese Entwicklung zeichnete sich schon länger ab, Inseratenaffäre und erneuter Lockdown fungierten als Brandbeschleuniger.

Momentan liegen Schwarz und Grün zusammen bei rund 30 Prozent: Damit würde man heute keine Wahl gewinnen, der Rückhalt der Wähler ist weg. Das Gefühl, „Die bringen nix zusammen“ dominiert. Nun gibt es in der Bevölkerung mit Sicherheit teilweise falsche Erwartungshaltungen, was die Handlungsspielräume der Regierung betrifft. Denn die Aufgabenstellungen an die Politik sind extrem schwierig und vielfach national unlösbar: Eine Pandemie kennt keine Grenzen. Der Ukraine-Krieg ist ein Konflikt mit internationalen Dimensionen. Die Teuerung ist einem komplexen, globalen Wirtschaftssystem geschuldet. Die Gasversorgung ist Teil der russischen Kriegsführung. Viele Fehler, die national gemacht wurden, können nicht von heute auf morgen ausgemerzt werden. Dennoch: Es geht oft nicht darum, dass man Probleme sofort löst und wie fachliche Entscheidungen getroffen werden, sondern wie man damit umgeht und wie man diese vermittelt.

Ein direkter Vergleich, wie unterschiedliche Herangehensweise im Beliebtheitsbarometer ausschlagen kann, zeigt der Umgang unterschiedlicher Länder mit der Energiekrise. Objektiv ist Österreich etwa besser aufgestellt als Deutschland, die heimischen Gasspeicher sind deutlich voller. Doch während der deutsche grüne Energieminister, Robert Habeck, trotz Krise zum beliebtesten Politiker avanciert, verliert sein österreichisches Pendant, Leonore Gewessler. Habecks Erfolgsrezept: Transparenz stärkt Demokratie und Vertrauen. Er kommunizierte der deutschen Bevölkerung schon frühzeitig die ungeschönte Wahrheit, erklärte seine Pläne. Und Gewessler? Aus ihrem Ressort kommen nur wenig substanzielle Antworten auf brennende Fragen. Man hält Daten zurück. Auf parlamentarische Anfragen der Opposition kommen nur dünne Antworten. Man hat nicht das Gefühl, dass die Regierung mit offenen Karten spielt und sich bemüht, dem Bedürfnis der Bevölkerung nach Aufklärung nachzukommen.

Den Grünen fällt das doppelt auf den Kopf: Sie sind diejenigen, die nach einem Transparenzgesetz rufen, wenn es aber unangenehm wird, mauern sie so wie jene Parteien, die sie dafür kritisieren.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Quergeschrieben

Gerüchte um Liste Kern: Die Steigerung von Feind ist der (ehemalige) Parteifreund

Christian Kern tritt bei der Nationalratswahl mit einer eigenen Liste an: Bei dieser Meldung kann es sich nur um eine fiese Zeitungsente handeln.
Vorderster SPÖ-Regierungskritiker: Vizeklubchef Jörg Leichtfried stieg auf zur Nummer zwei der Sozialdemokraten.
Porträt

Jörg Leichtfried: Der Schaffner im roten Schlafwagen

Kaum ein SPÖ-Politiker ist so präsent wie Jörg Leichtfried, zuletzt stolperte der Vizeklubchef in eine tagelange Debatte um die Ablöse der Rechnungshof-Chefin. Wie wurde er zur roten Nummer zwei? Und was will er eigentlich?
Christian Kern (hier auf einem Archivbild im Wahlkampf 2017) soll an einer Partei basteln. E selbst hält dieses Gerücht gekonnt am Wabern.
Leitartikel

Sind Sie schon bereit für die Liste Kern?

So ein politisches Comeback geht durchaus mit Risiken einher, sofern man nicht Winston Churchill ist. Es braucht jedenfalls besondere Umstände.
Pamela Rendi-Wagner.
Projekt Ballhausplatz

Wie Rendi-Wagner Kanzlerin werden soll

Die SPÖ-Strategen arbeiten seit Monaten am Projekt Ballhausplatz. Im Fokus haben sie enttäuschte ÖVP-Wähler, neue Ansätze in der Wirtschaftspolitik – und womöglich auch eine Ampelkoalition.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.