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Bizarre Begegnung im Haus Ludwig Hirschfelds

Reminiszenzen: Hier lebte Hirschfeld, Autor des gut gealterten Guidebuchs „Wien – was nicht im Baedeker steht“, 1926, Neuauflage 2020, Milena Verlag.
Reminiszenzen: Hier lebte Hirschfeld, Autor des gut gealterten Guidebuchs „Wien – was nicht im Baedeker steht“, 1926, Neuauflage 2020, Milena Verlag.Martin Amanshauser
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Bei den Postkasteln treffen wir auf einen älteren Mann. Der erzählt uns offen die Geschichte des Hauses, in dem seine Familie seit ewig wohnt.

An jenem Wintertag treffe ich einen Kollegen vom „Profil“ vor der Bechardgasse 17, 1030 Wien, einem exzellent renovierten Haus (1914), Marmoreingang, Hausmeisterwohnung, antiker Aufzug. Auf Top 12A wohnte seit den Zwanzigern der berühmte, heute fast vergessene Journalist, Satiriker und Autor Ludwig Hirschfeld (1882–1942, ermordet in Auschwitz). 12A-Wohnungen gibt es zuhauf in Wien, ein Aberglaube, um Top 13 zu vermeiden. Vor 12A im vierten Stock stehen Roller. Als diskrete Nicht-Aufdeckungsjournalisten läuten wir nicht an. Wir sind hier, weil ich das Nachwort zu Hirschfelds historischem Wien-Führer (1927) geschrieben habe, mein Branchenkollege will ein kurzes Gespräch am Schauplatz führen.

Bei den Postkasteln begegnen wir einem älteren Mann. Der erzählt uns offen die Geschichte des Hauses, in dem seine Familie seit ewig wohnt: „Wir waren hier Hausmeister über Generationen, zuerst die Urgroßmutter, ab den Sechzigern die Großmutter.“ Die Hirschfelds hätten als generöse, freundliche Familie gegolten. Sein uralter Vater könne sich noch an Ludwig Hirschfeld erinnern, der den Hausmeisterbuben manchmal zum Schwiegervater-An­wesen nach Sauerbrunn mitgenommen habe. Als erste Person in der Bechardgasse habe Hirschfeld ein Automobil besessen.
Pro Stockwerk verfüge das Haus über zwei Wohnungen, jeweils 100 bzw. 180 Quadratmeter. Unter den Nationalsozialisten sei es vielfach zu Arisierungen gekommen. Der Altbewohner ist unser idealer Zeitzeuge, 1951 geboren, wohnte sein Leben lang hier. Er erzählt, dass er seit der Pensionierung vermehrt Texte schreibe. „Sie werden keine große Freude mit mir haben, weil ich arbeite für ,Zur Zeit‘. Sozusagen ein Kollege.“

Was für eine bizarre, typisch wienerische Begegnung! Der Schreiber aus dem rechtslastig-deutschnationalen Blatt geleitet uns zuvorkommend noch einmal in die Hirschfeld-Etage. Die Familie auf 12A kennt er nicht, gut ist ihm allerdings eine alte Hausbewohnerin bekannt, bei der wir läuten. Begrüßung, sie steht verängstigt in der Tür, hat keine Erinnerung an Ludwig Hirschfeld: „Wir sind doch erst seit 1939 in diesem Haus!“

("Die Presse Schaufenster" vom 24.06.2022)

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