Gastkommentar

Gesinnungskorridore auf dem Campus

(c) Peter Kufner
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Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit beklagt Einschränkungen von freier Forschung und Lehre, versucht jedoch selbst, die freie Rede einzuengen. Das ist ein eigenartiges, begrenztes Verständnis von Meinungsfreiheit.

DER AUTOR

René Rusch (*1976) ist Politikwissenschaftler
und TV-Regisseur. Er schreibt gerade an dem Buch „Der Antirassismus-Führer“ (www.antirassismus-fuehrer.de).

Die kurzfristige Absage eines Vortrags der Biologin Marie-Luise Vollbrecht zum Thema Sex und Gender an der Humboldt-Universität Berlin (mittlerweile gibt es einen neuen Termin) ließ die Wogen in den vergangenen Tagen hochgehen. Wieder vorn dabei: das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, über 600 Wissenschaftler:innen, die sich zusammengeschlossen haben, da „die Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll“. An den Unis herrsche „Konformitätsdruck“, Debatten würden „im Keim erstickt“. Alarmistische Wortmeldungen dieser Art kennt man zur Genüge aus dem Anti-Political-Correctness-Diskurs. Doch wenn Hunderte Wissenschaftler:innen warnen, hat das eine andere Qualität als der wöchentliche Anti-P.-C.-Wortsalat in „NZZ“ oder „Welt“.

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit übt sich nicht im gängigen Anekdoten-Recycling mit aufgebauschten Geschichten von irgendwelchen US-Unis. Stattdessen ist eine Dokumentation verfasst worden, welche konkrete „Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit“ im deutschsprachigen Raum auflistet. Im Folgenden eine Analyse der Fälle aus den Jahren 2020/21.

Magere Ausbeute

Der erste Gedanke, der bei der Lektüre in den Sinn kommt: Es wäre kein Fehler gewesen, die Dokumentation der „Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum“ gegenlesen zu lassen – optimalerweise von jemandem aus dem Fach Geografie. Denn gleich zwei Fälle stammen aus Grenoble/Frankreich bzw. Sussex/England. 2020 und 2021 dokumentierte das Netzwerk elf Fälle, die tatsächlich im deutschsprachigen Raum stattgefunden haben. Das erscheint rein quantitativ als magere Ausbeute. 648 Mitglieder zählt das Netzwerk aktuell; 648 wachsame Mitglieder, die wahrnehmen, dass die akademische Atmosphäre „zunehmend durch moralisch-weltanschaulichen Druck und Selbstzensur geprägt ist“. Wenn die Lage so dramatisch ist: Warum nur elf Fälle?

Elf Fälle wohlgemerkt, die nur zustandekommen, weil das Netzwerk einen sehr niedrigen Maßstab anlegt, um etwas als „Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit“ zu werten: In der Regel ist nicht viel passiert, außer dass Kritik geübt wurde: an einem Vortrag, einer Professur, einer Publikation. Echte Kracher sind nicht zu finden. Ein einziger Fall ist aufgelistet, in dem jemand entlassen wurde. Davon betroffen war der Professor aus Grenoble, nachdem er seine Universität als „Umerziehungslager“ bezeichnet hatte. Quelle surprise!

Das Netzwerk ordnet sämtliche Beispiele dem Narrativ von der bedrohten Wissenschaftsfreiheit unter. Was immer vorgefallen ist, wird im Sinne desjenigen interpretiert, der „Cancel Culture“ beklagt. Die teilweise radikalen Standpunkte, welche einige der vermeintlichen Opfer vertreten, werden ignoriert. Ebenso wird nicht berücksichtigt, wie breit die akademischen Allianzen mitunter aufgestellt sind, von denen der Protest ausgeht.

Nun ist bei manchen Fällen nachvollziehbar, dass sie als Beispiel für Cancel Culture gelesen werden – bei manchen bleibt es aber rätselhaft, warum sie es auf die Liste geschafft haben. So oder so ist es immer Interpretationssache, wie ein nicht erschienener Artikel oder eine abgesagte Veranstaltung verstanden werden. Nicht wenigen Beispielen liegen Konstellationen mit schwer durchschaubarer Sachlage zugrunde. Dass das Netzwerk alle Fälle als Belege für die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit präsentiert, verleiht dem Projekt eine deutliche Schlagseite.

Die Parteinahme für die angeblichen Cancel-Culture-Opfer ist umso beachtenswerter, hält man sich vor Augen, wer hier mitunter (implizit) verteidigt wird:
• Der Althistoriker Egon Flaig, für rechte und revisionistische Ansichten bekannt, kommentierte den Mord an Walter Lübcke mit den Worten: „Wer in der Öffentlichkeit das Wort ergreift, muss für seine Worte einstehen – lebenslang.“
• Mediziner Paul Cullen tritt in Kanälen auf, die Verschwörungsmythen zu Covid-19 verbreiten, und vergleicht Virolog:innen mit Taliban. Schwangerschaftsabbrüche diffamiert er als „Tötungen“.
• Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld schwadronieren von der „demografischen Kolonisierung Europas“ und bezeichnen Eingewanderte schon einmal als „Umvolkungsdeutsche“. Die Werke von Lichtmesz und Sommerfeld werden in der Dokumentation als „rechte“ Literatur unter Anführungszeichen beschrieben.

Die Parteinahme für Fanatiker ist nicht der Hauptvorwurf, welcher dem Netzwerk gemacht werden muss. Auch schlampige Arbeitsweise sowie tendenziöse Präsentation sind zweitrangig. Die zentrale Kritik ist die folgende: Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit beklagt Einschränkungen von freier Forschung und Lehre, versucht jedoch selbst, die freie Rede einzuengen.

Wieso ist dieser Schluss zu ziehen? Vornweg: Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn der Protest gegen einen Gastvortrag oder einen Text kritisch hinterfragt wird. In der Tat kommt es auch im akademischen Bereich zu unangemessenen Anfeindungen. Im Zweifel sollte das Gut der Redefreiheit höher gewertet werden als die Sorge um eine mögliche Verbreitung radikaler Positionen. Allerdings ist auch klar, dass Grenzen gezogen werden müssen. Nicht allen Standpunkten muss eine akademische Bühne geboten werden. Welche Universität würde einen Gastredner einladen, der Chlorbleiche als Prophylaxe gegen Covid-19 empfiehlt? Ob ein Vortrag die Grenzen des Sagbaren sprengt oder ob jemand einer Professur würdig ist, entscheidet die jeweilige akademische Institution. Doch so sicher, wie diese Entschlüsse Sache der zuständigen Entscheidungsträger sind, haben andere das Recht, Kritik zu üben.

„Diffamierung“ oder Kritik?

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit offenbart ein eigenartiges, begrenztes Verständnis von Meinungsfreiheit: Auf der einen Seite werden die Grenzen dessen, was im akademischen Raum sagbar sein soll, äußerst weit gezogen. Auf der anderen Seite wird jede Kritik, die daran geübt wird, als „Einschränkung“, „Diffamierung“ oder „Angriff“ diskreditiert. Zur Anwendung kommt ein wohlbekannter Winkelzug: Die Debatte wird auf imaginäre Sprechverbote gerichtet, um von der Radikalität der kritisierten Standpunkte abzulenken. Es wird verdrängt, dass Meinungsfreiheit für alle gilt. Sie umfasst die Positionen des „rechten Professors“ genauso wie die Gegenrede der „woken Studentenschaft“.

Angesichts der Personen und Positionen, welche das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit verteidigt, dokumentiert die Sammlung 2020/21 vor allem das Bestreben, Kritik an rechten und reaktionären Argumentationen zu delegitimieren.

Da selbst fundierte Kritik an Zeitgenossen wie Flaig oder Cullen als „ideologisch motiviert“ abgetan wird, kann das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit als akademischer Arm der Reaktion bezeichnet werden. Übernimmt man dessen Sichtweise, bleibt kaum noch Raum für legitime Gegenrede.

Es ist unerfreulich, auf eine Phrase zurückgreifen zu müssen, die üblicherweise von der Anti-P.-C.-Fraktion eingesetzt wird. Aber nach dem Studium der „Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit“ 2020/21 lautet das Fazit: Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit errichtet Gesinnungskorridore.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2022)

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