Großbritannien

Boris Johnson kündigt Rücktritt an und bezeichnet Abgeordnete als "Herde"

British PM Johnson speaks at Downing Street
British PM Johnson speaks at Downing Street(c) REUTERS (HENRY NICHOLLS)
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Der Druck auf Boris Johnson ist zu groß geworden, der britische Premier tritt sofort als Parteichef zurück, will aber noch Premierminister bleiben, bis es einen Nachfolger gibt. Das geht manchen zu langsam. Die Fehler suchte Johnson in seiner Rede lieber bei anderen.

Die jüngste Affäre um die Beförderung eines Tory-Abgeordneten trotz Belästigungsvorwürfe gegen ihn, war offenbar der Tropfen, der das Fass an Vorwürfen und Skandalen schließlich doch noch zum Überlaufen gebracht hat. Wenige Stunden, nachdem der britische Premierminister Boris Johnson noch öffentlich erklärt hat, er werde nicht zurücktreten, war es Donnerstagnachmittag doch soweit: Johnson trat gegen 13.30 Uhr zu einer Pressekonferenz vor seinen Amtssitz in der Londoner Downing Street.

Johnson tritt als Parteichef sofort zurück, will aber so lange im Amt des Premierministers bleiben, bis ein Nachfolger gefunden ist, sagte er in seinem rund sechsminütigen Statement. Der Zeitplan werde in der nächsten Woche bekannt gegeben.

„Schmerzhaft, Ideen nicht vollenden zu können"

Reue zeigte Johnson nicht. Stattdessen kritisierte er in seiner gut sechsminütigen Stellungnahme die Rücktrittsforderungen seiner Partei als "exzentrisch". "Es ist nun eindeutig der Wille der konservativen Parlamentsfraktion, dass es einen neuen Parteichef geben soll und damit auch einen neuen Premierminister", sagte Johnson. Er habe zugestimmt, dass der Auswahlprozess für einen neuen Parteichef nun beginnen solle.

Johnson betonte zugleich, er habe noch versucht, seine Partei von seinem Verbleib zu überzeugen. "Ich bedauere, dass ich keinen Erfolg hatte mit diesen Argumenten, und natürlich ist es schmerzhaft, so viele Ideen und Projekte nicht selbst vollenden zu können", sagte er.

„Niemand sei auch nur ansatzweise unersetzbar“, sagte er an einer Stelle wohl auch in Richtung seiner Parteikollegen, die sich bereits in Stellung bringen. Er werde seinen Nachfolger so gut es geht unterstützen und sei sehr traurig, „den besten Job in der Welt“ aufzugeben.

Als Erfolg seiner Amtszeit vermeldete Johnson das weltweit schnellste Impfprogramm, den weltweit am schnellsten beendeten Lockdown, das Reduzieren von Steuern und die führende Rolle im Westen im Widerstand gegen Wladimir Putins Aggression in der Ukraine.

Kritik an seiner Rede setzte es für Johnson, weil er den Abgeordneten in Westminster an einer Stelle „Herdentrieb“ vorwarf - und die Fehler nicht bei sich selbst gesucht hatte. „When the herd moves, it moves“ - wenn sich die Herde bewege, dann bewege sie sich eben.

Tories suchen neuen Chef

Am Vormittag hatte es geheißen, Johnson solle bis Herbst noch im Amt bleiben. Kandidaten der konservativen Partei sollen in einen Wahlkampf treten können. Wer dann nächster Premierminister wird, soll dann bei der Parteikonferenz im Oktober geklärt werden, berichtet die britische BBC. Ob der Zeitplan so hält, ist fraglich. Erste Reaktionen auf Johnsons Pläne waren teils negativ, auch in seiner eigenen Partei fordern einige den sofortigen Rückzug aus der Downing Street. Am Donnerstagnachmittag hieß es aus Boris Johnsons Büro allerdings erneut gegenüber dem britischen Medium „i", Johnson werde „das Fort halten“, es gebe keine verfassungsrechtliche Basis dafür, es anders zu machen.

In London gab es spontane Demonstrationen rund um den Amtssitz des Premierministers in der Downing Street.
In London gab es spontane Demonstrationen rund um den Amtssitz des Premierministers in der Downing Street.(c) Die Presse/Leibl

>> Premier gesucht: Wer könnte auf Johnson nachfolgen?

Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Party hat in einer ersten Stellungnahme auf Twitter den Rücktritt Johnsons begrüßt. Er wirft der Regierung zwölf Jahre wirtschaftliche Stagnation und leere Versprechen vor und fordert Neuwahlen. "Wir brauchen eine Labour-Regierung", sagte Starmer. "Wir sind bereit."

Auch die Chefin der schottischen Regierungspartei SNP, Nicola Sturgeon, zeigte sich „erleichtert“, dass das Chaos der letzten Tage und Wochen nun zu einem Ende käme, schrieb Nicola Sturgeon auf Twitter. Kritik übt sie an der Entscheidung der Konservativen, Johnson bis Herbst als Premierminister im Amt zu belassen.

Mit ihrer Meinung ist Sturgeon nicht allein, auch Johnsons ehemaliger Chefberater Dominic Cummings hat per Twitter bereits heftige Kritik daran geübt, dass Johnson vorerst im Amt bleiben will. Er plädiere für Vize-Premier und Justizminister Dominic Raab als Übergangs-Premier. Raab gilt als einer der wenigen Minister, die keine Ambitionen auf den Parteivorsitz haben.

Eine Affäre zu viel

Unmittelbarer Auslöser der Regierungskrise: Johnson hatte einen Tory-Abgeordneten befördert, obwohl er wusste, dass ihm sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. Zunächst hatte Johnson alles abgestritten, musste aber am Dienstag zugeben, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Aber dies war nur der jüngste Rückschlag für die Regierung. Insbesondere die Corona-Party-Affäre, die sich seit Dezember hinzog, hat bei Johnsons Kollegen tiefe Frustration ausgelöst. Ende Juni folgten zwei schwere Wahlniederlagen, in denen die Tories Unterhaussitze an Labour und an die Liberaldemokraten verloren – ein weiteres Zeichen, dass die Partei unter Johnson mit einem permanenten Imageproblem kämpft.

Rücktrittswelle

Einen Überblick über die aktuelle Zusammensetzung des britischen Kabinetts zu behalten, war Donnerstagfrüh beinahe unmöglich geworden, kaum ein Mitglied wollte sich längerfristig an Premierminister Johnson binden. Mit Nordirland-Minister Brandon Lewis legte bereits das vierte Kabinettsmitglied von seinem Posten zurück. Einen weiteren Minister hatte Johnson entlassen.

Mehr als 50 Regierungsmitglieder auf unterschiedlichen Ebenen hatten in weniger als 48 Stunden die Regierung verlassen und erklärt, Johnson sei nach einer Reihe von Skandalen nicht mehr in der Lage, das Amt zu führen, während sich Dutzende in seiner konservativen Partei in einer offener Revolte befinden.

Selbst der neue Finanzminister Nadhim Zahawi forderte Johnson am Donnerstag zum Rücktritt auf, weniger als 48 Stunden, nachdem der Premierminister ihn zu diesem Amt befördert hatte. Er sagte, die Krise, in der sich die Regierung befindet, werde nur noch schlimmer werden.

Die Rücktrittswelle nach dem jüngsten Skandal um die Besetzung von Christopher Pincher hatten Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid losgetreten, kurz danach ging auch Simon Hart als Minister für Wales.

(c) Die Presse

(klepa/Ag.)

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