Gastkommentar

Die Ukraine endlich ernst nehmen

Ukrainerinnen und Ukrainer werden in intellektuellen Debatten nicht gleichberechtigt behandelt.

Zur Autorin

Katherine Younger, PhD (geboren 1986 in Illinois) ist Historikerin, promovierte in Yale und ist Permanent Fellow und Forschungsleiterin von „Ukraine in European Dialogue“ am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.

Es ist fast schon Usus, über den 24. Februar 2022 als einen Moment zu sprechen, der die Welt für immer verändert hat. Doch für die Menschen in der Ukraine kündeten die Bomben, die an jenem Morgen auf Kiew fielen, keineswegs von einer völlig neuen Welt. Vielmehr bedeuteten sie eine schreckliche Verschärfung dessen, womit sie schon seit Jahren zu kämpfen hatten: nicht nur seit 2014 mit der illegalen Besetzung der Krim durch Russland und dem Krieg im Donbass, sondern auch aufgrund der viel längeren Geschichte der Feindseligkeit Moskaus gegenüber der Idee der Ukraine als solcher. Wir hätten das vielleicht erkannt, wenn wir den ukrainischen Stimmen Gehör geschenkt hätten. Doch die intellektuelle, kulturelle und politische Marginalisierung der Ukraine hat das verhindert.
Die akademische Welt wird sich mit ihrer langjährigen Fixierung auf Russland auseinandersetzen müssen. Institutionelle Strukturen, Finanzierungsmechanismen und Machtperzeptionen haben es schwierig gemacht, sich auf andere Teile der Region, einschließlich der Ukraine, zu konzentrieren. Auch der Kulturbereich tut sich schwer damit.

„Westsplaining“

Mag der Krieg auch dazu geführt haben, dass die Menschen der Ukraine jetzt mehr Aufmerksamkeit schenken, so gibt es noch viel zu tun. Immer wieder werden Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem Verdacht konfrontiert, sie seien engstirnige Nationalisten, mit der Vermutung, die Ukraine sei nicht in der Lage, die für einen EU-Beitritt erforderlichen Reformen umzusetzen, oder mit der Unterstellung, sie sollten sich damit abfinden, dass sie Territorium an Russland abtreten müssen. Allzu oft werden die ukrainischen Perspektiven nur als eine Art Anhängsel betrachtet. Die Herablassung gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrainern ist so weitverbreitet, dass der Begriff des „Westsplaining“ Eingang in unseren Wortschatz fand, also dass der Westen der Ukraine die Welt erklärt.
Die Existenz realer Menschen mit realen Gedanken und realen Gefühlen in der Ukraine wird fast wie eine Art Unannehmlichkeit behandelt. Es wäre unschicklich, ihr Leid nicht anzuerkennen, aber nur wenige Menschen wollen sich wirklich damit auseinandersetzen, oder mit der Frage, welche Mitschuld und Verantwortung die Welt im Allgemeinen trägt. Man schaue sich nur einen der zahlreichen Artikel an, in denen der tapfere Widerstand und das schreckliche Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer mit Lippenbekenntnissen gewürdigt werden, ehe man sich dann über das Schicksal Russlands erregt oder die möglichen Kosten einer Unterstützung für die Ukraine beklagt.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.