Afghanistan-Abzug 2021

Ex-Leiter der deutschen Botschaft in Kabul: "Regierung ließ uns allein"

Spain ends Afghan evacuation
Spain ends Afghan evacuationREUTERS
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Ex-Gesandter Jan Hendrik van Thiel spricht im „Spiegel" über die Zeit der jähen Machtübernahme der Taliban und Fehlentscheidungen des Außenamts in Berlin wider besseren Wissens der Diplomaten vor Ort.

Der frühere Chef der deutschen Botschaft in Kabul, Jan Hendrik van Thiel, erhebt schwere Vorwürfe gegen die deutsche Regierung in Zusammenhang mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor rund einem Jahr. „Das Auswärtige Amt hat uns alleingelassen und in den Wochen vor der Evakuierung unsere Einschätzungen und operativen Vorschläge weitgehend ignoriert", sagte van Thiel dem „Spiegel" laut Vorabmeldung vom Freitag.

Der Diplomat hatte in den Wochen vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul am 15. August 2021 immer wieder gefordert, die Botschaft solle geräumt werden, wie das Magazin berichtete. Auch sprach sich van Thiel demnach dafür aus, die lokalen afghanischen Helfer deutscher Institutionen deutlich schneller aus Afghanistan herauszubringen als geplant.

Van Thiel (*1965 in Berlin) war damals stellvertretender Botschafter in Afghanistan und führte die Geschäfte. Der „Spiegel" zitierte aus einer E-Mail des Diplomaten an das Auswärtige Amt vom 12. August 2021, in der er vor dem Zerfall der afghanischen Regierung warte: „Es zieht sich zu", schrieb er. „Blitz und Donner für die nächsten Tage erwartet."

Twitter (Screenshot)

Auch im Krisenstab der deutschen Regierung habe er die Schließung der Botschaft gefordert. „Wir haben nicht mehr sehr viel Zeit, wir müssen uns evakuierungsbereit machen", warnte er laut „Spiegel" in der geheim tagenden Runde am Freitag vor dem Fall von Kabul. Trotzdem habe die Runde damals nicht beschlossen, die Botschaft zu schließen.

Stattdessen habe van Thiel ganz andere Signale bekommen: Noch am Samstag vor dem Einmarsch der Taliban habe Afghanistan-Sonderbeauftragter Markus Potzel ihm geraten, in der Botschaft zu bleiben. Die Taliban würden nicht so schnell kommen; selbst bei einem Einmarsch würden sie die Deutschen in Ruhe lassen. Van Thiel habe den Vorschlag abgelehnt. „Dass die Taliban uns nichts tun wollen, ist nichts als eine unbewiesene Annahme", schrieb er dem Bericht zufolge an Potzel.

Letztlich hätten van Thiel und der Sicherheitsbeauftragte der Botschaft, ein Mitarbeiter der Bundespolizei, schon vor der entsprechenden Weisung aus Berlin damit begonnen, in Vorbereitung der Evakuierung sensibles Material zu zerstören und Waffen in einem Brunnen einzubetonieren, berichtet das Magazin. Erst am Sonntag, 15. August, verließ er mit weiteren Diplomaten sowie Sicherheitsleuten die Botschaft.

Unzufrieden mit dem Behördenapparat

Über Unzufriedenheit van Thiels mit dem Gebaren des Auswärtigen Amtes in Berlin hatte es schon frühere mehrfach Berichte gegeben. Seit Februar ist er Geschäftsträger der deutschen Botschaft im Karibikstaat Jamaica; vor Afghanistan war er unter anderem in Simbabwe, im Südsudan und Malaysia stationiert gewesen. Zu den chaotischen und späten deutschen Evakuierungsaktionen inmitten der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurde erst Anfang Juli ein Untersuchungsausschuss des Bundestags eingesetzt.

Die Islamisten hatten ihren landesweiten Vormarsch bald nach dem Abzug der US-Truppen begonnen, der zuvor in einem Friedensabkommen mit den Taliban ausgehandelt worden war. Die afghanische Armee brach schnell zusammen, auch das Gros der übrigen fremden Schutztruppen im Land zog ab oder hatte das schon getan. Präsident Ashraf Ghani floh ins Ausland. Im Rahmen einer maßgeblich von den USA getragenen Luftbrücke wurden bis Ende August mehr als 120.000 Menschen, vor allem Afghanen, aus Kabul ins Ausland gebracht. Die Szenen am Flughafen waren teils apokalyptisch und gingen in die Geschichte ein.

(APA/AFP)

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