Es wird „fremdgeschämt“! Aber warum erst jetzt?

Das „Wort des Jahres 2010“ ist eigentlich ein Wort des Jahres 2005. Waren wir in den letzten Monaten wirklich so unkreativ?

Es ist ein lieb gewonnenes Ritual: Im Dezember wird das Wort des Jahres gekürt – und meistens hat die österreichische Realpolitik die Bescherung angerichtet: Die „Hacklerregelung“ etwa schaffte es 2003 auf Platz eins, ein Jahr später war die „Pensionsharmonisierung“ dran, die es gut und gerne auch als „Unwort des Jahres“ zu etwas gebracht hätte. Es gab den „Schweigekanzler“ und den „Lebensmenschen“ und 2009 den von Kollege Pink erfundenen „Audimaxismus“. Heuer? Waren wir nicht ganz so kreativ: „Fremdschämen“ stammt aus dem Jahr 2005! Erfunden hat dieses Wort angeblich Harald Schmidt, und es machte zeitgleich mit dem Begriff „Unterschichtenfernsehen“ Karriere, mit dem es unmittelbar zusammenhängt: Es bezeichnet die Scham, die uns überfällt, wenn sich vor unseren Augen ein Mensch über das erträgliche Maß hinaus blamiert, dies aber selbst nicht zu erkennen imstande ist, weshalb wir an seiner statt diese Aufgabe übernehmen: Formate wie „Dschungelcamp“ oder „Big Brother“ zwangen uns dazu.

Fremdschämen hat also etwas mit Empathie zu tun. Auch mit Mitleid. Interessant nun die Begründung der Jury, warum ausgerechnet dieser Begriff das Rennen machte – und zwar wird er politisch uminterpretiert: „Angesichts des Verlusts an Qualität in vielen Bereichen (Bildung, Verwaltung, Krankenwesen usw.) und der Stagnation in der heimischen Politik verschiebt sich das Verantwortungsgefühl auf die einzelnen Bürger, die sich für die Zustände und die dafür Verantwortlichen immer öfter genieren, obwohl die Lösung nicht in ihren Händen, sondern in jenen der zuständigen Politiker liegt, die aber vielfach untätig bleiben.“ Aber: Schämen wir uns wirklich? Sind Politiker bedauernswert genug? Sind sie uns nahe genug? Ist es uns peinlich, wenn ein Umweltminister auf einem Pariser Flughafen die Contenance verliert und die Botschaft als „Saustall“ beschimpft, nur weil eine Air-France-Maschine ohne ihn davongeflogen ist? Im Übrigen wäre der Frage nachzugehen, warum es dieses Nutzvieh noch auf keine Liste geschafft hat: Wir erinnern uns an Wolfgang Schüssel, der den deutschen Bundesbankpräsidenten angeblich als „richtige Sau“ titulierte. Und an Herwig van Staa, der für den deutschen Außenminister die Bezeichnung „Schwein“ gefunden haben soll. Pardon: Er sagte „Schweigen“.

Aber zurück zur Liste: Zum Unwort des Jahres wurde die „humane Abschiebung“ gekürt. Den Spruch des Jahres haben wir Finanzminister Pröll zu verdanken, der versprach, er werde „auf die Einhaltung des Defizits achten“. Der „Unspruch“ des Jahres ist zwar wieder nicht mehr taufrisch, aber von ihm lässt sich sagen: Nie war er so im Schwange wie heute: „Es gilt die Unschuldsvermutung“ wurde hinlänglich satirisch ausgeschlachtet. Wir empfehlen schlicht die Re-Lektüre der einschlägigen Artikel unseres Kollegen Urschitz.

E-Mails: bettina.steiner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2010)

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